Die Rebellin
Viktualienhändler? Gleich nach der Brauerei begann das »Krähennest«, ein unentwirrbares Labyrinth von Gassen, aus dem kein Fremder ohne Hilfe wieder herausfand. Die Fensterscheiben der Häuser waren zerbrochen und mit Lumpen abgedichtet, dahinter hausten mehrere Familien in einem Raum: Obstund Konfekthändler in den Souterrains, Barbiere und Bücklingsverkäufer im Hinterzimmer, im ersten Stock ein Singvogelhändler oder Kesselflicker, im Hausflur ein Dutzend Iren, in der Küche ein Leierkastenmann, im Waschhaus eine Tagelöhnerin mit ihren Kindern.
Victor passierte gerade das »Ginkontor«, wie der Schnapsladen zwischen dem koscheren Fleischer und dem russischen Bäcker großspurig hieß, als er durch die offene Tür einen roten Haarschopf sah. Im nächsten Moment betrat er das Lokal.
Die Pracht, die ihn hier empfing, verblüffte ihn jedes Mal aufsNeue. Nach dem Dreck der Straße war plötzlich alles Licht und Glanz. Von den Decken hingen Kronleuchter herab, eine spiegelblank polierte Mahagonischranke teilte das Lokal der Länge nach in zwei Hälften, und an den Wänden prangten auf grün lackierten Eichenbohlen goldbemalte Fässer, aus denen die Schankmädchen Sherry, Gin und Branntwein abfüllten. Die Tische waren voll besetzt mit Säufern, die kaum Geld für ein Stück Brot hatten und mit zittrigen Händen darauf warteten, dass ihnen das nächste Glas eingeschenkt wurde.
Toby hockte am Tresen. An der Seite von Robert kippte er gerade ein Glas Whisky und zog dabei ein Gesicht, als wäre das sein Beruf. Wegen seiner roten Haare bildete er sich ein, dass er von irischen Vorfahren abstammte – weshalb er immer so sprach, als käme er aus Dublin, und am liebsten irischen Whisky trank.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Victor.
»Wo es hier gerade so gemütlich ist?« Toby biss ein Stück von dem Kautabak ab, den Robert ihm reichte. »Ich trinke schon mal ein Glas auf Feargus O’Connor. Und auf unseren Triumph heute Abend.«
»Statt darauf zu trinken, könntest du was dafür tun«, sagte Victor. »Die Unterschriften müssen vor der Kundgebung im Büro sein. Sonst zählen sie nicht mit.«
»Wenn es so wichtig ist, warum erledigst du das dann nicht selber?«, fragte Robert. »Komm, Toby, noch ein Glas auf Irland. Ich gebe einen aus.«
Robert schnippte mit den Fingern, und das Schankmädchen füllte zwei Gläser ein. Plötzlich verspürte Victor den Drang, auch ein Glas zu nehmen und hinunterzustürzen, um sich Mut für Emily anzutrinken. Doch diese Anwandlung dauerte nur einen Moment. Er wusste, was geschah, wenn er Schnaps trank.
»Du kannst allein saufen«, sagte er zu Robert, legte ein paar Pennies auf den Tresen und zog Toby fort. »Bist du verrückt geworden?«, fragte er dann, als sie auf der Straße waren. »Unser Geld für Schnaps auszugeben?«
»Das musst gerade
du
sagen!«, protestierte Toby. »Oder macht Fanny es etwa umsonst?«
Victor schwieg. Er empfand Tobys Frage wie eine Schmeißfliege, die durch das zarte Gespinst seiner Gefühle brummte.
»Ich wette, du bist mit ihr verabredet. Oder warum hast du keine Zeit, die Liste selber wegzubringen?«
Wieder sagte Victor nichts. Er hatte nur das Bedürfnis, so schnell wie möglich am Ort seiner Verabredung zu sein.
»Sag mal, wie ist es eigentlich, wenn man sie küsst?«, fragte Toby nach einer Weile.
»Wenn man wen küsst?«
»Frauen natürlich!«
»Ungefähr so, wie wenn man ein Stück Bratfisch isst«, erwiderte Victor in der Hoffnung, dass sein Freund den Mund hielt.
Doch Toby schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine nicht nur das Küssen. Ich meine vielmehr – scheiße, du weißt schon.«
»Also, wenn du
das
meinst – als ich so alt war wie du, hatte ich das längst ausprobiert.«
»Aber nur, weil du in einem Dorf groß geworden bist. Da ist das keine Kunst, mit dem ganzen Viehzeug und so.« Toby spuckte den Saft seines Priems aus. »Wenn’s einen Sixpence kostet, muss es ja eine verdammt feine Sache sein. Mindestens so fein wie Bratfisch und Whisky und Kautabak zusammen.«
»Alles zusammen würde grässlich schmecken, wie Elefantenpisse.«
»Robert behauptet, es würde sich anfühlen wie Niesen. Nimmst du darum Schnupftabak?«
»Robert geht mir auf die Nerven.«
»Sag das nicht, Robert kennt sich mit Weibern aus. Er hat schon über zweihundert Stück gehabt. Er behauptet, Rattenblut wäre das Beste, was es für Männer gibt. Hast du auch schon mal Rattenblut getrunken?«
»Himmelherrgottsakrament! Kannst du endlich
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