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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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gestiegen?«
    »Die Eisenbahn ist wichtiger als das Parlament, als alle Politiker zusammen.«
    »Und warum, wenn ich fragen darf?«
    »Weil die Züge die Lebensadern in dem ganzen dreckigen System sind. Ohne sie geht gar nichts. Hast du eine Ahnung, wie viele Waggons jeden Tag in London entladen werden?«
    »Ich bin noch nie auf einem Bahnhof gewesen. Außer nachts, um Kohlen zu klauen.«
    »Dann geh mal hin und schau dir das an. Allein die Midland Railway hat über dreißig Züge, und an jedem Zug hängen Dutzende von Waggons. Ganze Schiffsladungen sind das! Damit versorgen sie die Fabriken in Manchester und Derby mit allem, was sie da oben brauchen, mit Baumwolle und Maschinen und was weiß ich womit noch, und wenn die Sachen fertig sind, bringt die Eisenbahn sie wieder zurück nach London, damit sie hier verkauft werden.«
    Robert biss ein Stück Kautabak ab. »Ich glaube, so langsam begreife ich, worauf du hinauswillst«, sagte er und kaute auf seinem Priem. »Du meinst, wenn wir die Züge lahm legen, schnüren wir ihnen das Blut ab?« Er reichte Victor die Flasche. »Keine schlechte Idee. Komisch, dass bis jetzt noch niemand darauf gekommen ist!«
    Victor nahm die Flasche und schaute sie nachdenklich an.
    Plötzlich war er wieder in Chatsworth, vor vielen Jahren. Es war ein kalter Winternachmittag. Er und Emily hatten Schleudern gebastelt, um einen Kornschober für Mr. Paxton und den Herzog zu bewachen. Obwohl er fürchterlich in seiner dünnen Jacke fror, hatte er sich geweigert, einen von Emilys Mänteln anzuziehen. Um sich aufzuwärmen, tranken sie kleine Schlückchen von dem Wein, den sie dem Kirchenküster geklaut hatten.
    »Hast du schon mal von Captain Swing gehört?«, fragte Victor. Robert verneinte.
    »Es war im Winter fünfunddreißig oder sechsunddreißig, ich war ungefähr zehn Jahre alt. Wir hatten eine Hungersnot, die ganze Gegend war in Aufruhr. Da haben die Tagelöhner die Kornschober angezündet, die Scheunen und Ställe – überall. Wenn sie selber verhungern mussten, sollten die anderen auch nichts zu fressen haben. Jede Nacht flammte irgendwo ein Feuer auf. Und jedes Mal hieß es: Captain Swing hat wieder zugeschlagen.Die Großgrundbesitzer hatten schließlich solche Angst, dass sie sich gar nicht mehr aus ihren Häusern trauten.«
    »Und wer war dieser Swing?«, fragte Robert.
    Victor zuckte die Achseln. »Niemand weiß es, keiner hat ihn gesehen. Vielleicht war er nur ein Name, für den Hass und die Wut der Leute. Aber er hat eine Waffe erfunden, gegen die kein Polizist oder Soldat etwas machen kann. Man braucht nur ein paar Zündhölzer und ein Bündel Stroh.«
    Robert grinste. »Wie hieß die Eisenbahngesellschaft, von der du eben geredet hast? Midland Railway?« Er trat so nah zu Victor heran, dass dieser seinen warmen Atem im Gesicht spürte. »Ein paar Freunde von mir wollen schon lange mal einen Bahnhof besichtigen, vor allem ein Franzose, der letztes Jahr in Paris mit auf den Barrikaden war. Ich könnte mir vorstellen, dass sie Lust hätten, Captain Swings Waffe auszuprobieren. Bist du dabei?«
    Bevor Victor antwortete, nahm er einen Schluck Gin. Als er die Flasche absetzte, sah er eine kleine magere Gestalt in der Tür: Toby.
    Er lehnte am Pfosten und kratzte sich mit einem nackten Fuß am Hosenbein.

19
     
    Dunkle Nacht tauchte den Park von Chatsworth in die Schatten des Schweigens. Nur jene geheimnisvollen Wesen, die erst erwachen, wenn der Abend den Tag ablöst, erfüllten die mondgetränkte Stille mit lautlosem Leben. Große Vögel bewegten ihre Schwingen in der schwarzsilbernen Luft, die von Spätsommerdüften geschwängert war, und das Laub der Büsche und Bäume erzitterte vom Gesumm unsichtbarer Insekten, während leises Trappeln auf den verödeten Wegen unsichtbare Spuren im Sand hinterließ.
    Nur das alte Glashaus am Ende des Parks war erleuchtet. Hierhin hatte Emily sich zurückgezogen. Allein mit ihren Gedanken, saß sie am Seerosenteich, in die Betrachtung der Pflanzen versunken, die in ihrer weiß und rosa erblühten Pracht auf dem schwarzgrünen Wasser trieben. Im Verlauf der Jahre hatten sie eine solche Vielfalt und Fülle hervorgezaubert, wie kein Maler sie hätte erträumen können, allein durch jenen geheimnisvollen Prozess der Auslese, in der sich der dunkle Drang des Lebens nach Vervollkommnung überall in der Natur verwirklicht, bei den Pflanzen wie bei den Tieren.
    Auch bei den Menschen? Emily wusste, sie war im besten Alter, um zu heiraten, ihr Körper gab

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