Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
gerät leicht in Vergessenheit, was der Widerstand dennoch erreicht hat: Letztlich auf Druck der Straße erhöhte man das Schonvermögen von 10400 auf 13000 Euro, verlängerte die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für arbeitslose Arbeiter über 58 wieder auf 24 Monate und dehnte die Möglichkeiten für Hartz- IV -Empfänger aus, sich ein paar Cent dazuzuverdienen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass nahezu alle Verbesserungen für die Bevölkerung weder etwas mit Spendierhosen, ehrlicher Einsicht oder gar schlechtem Gewissen zu tun hatten. Vielmehr mussten sie – vom Achtstundentag, der Kranken- und Rentenversicherung und den Lohnerhöhungen bis hin zu den minimalen Zugeständnissen im Umwelt- und Naturschutz sowie der Lebensmittelhygiene (Stichwort: »Gammelfeisch«) – vom Volk erkämpft und müssen ständig verteidigt werden. Man denke nur an die Pendlerpauschale und die AKW -Laufzeiten.
Viertens schauen immer mehr Betroffene und andere Bürger über den ökonomischen Tellerrand. Sie bemerken Gemeinsamkeiten mit dem Widerstand gegen Umweltzerstörung, atomare Bedrohung und Kriegsbeteiligung in Afghanistan; und sie erkennen, dass an allen Fronten der Gegner stets derselbe ist und dessen Motiv ebenfalls: ganz banales Streben nach Maximalprofit. Und unabhängig vom Ausgang der jeweiligen Kämpfe wird bei vielen diese Erkenntnis bleiben.
2005
1 . 1 .: Mit dem neuen Jahr trat Hartz IV in Kraft – und begann der Ärger an der juristischen Front.
22 . 11 .: Der Europäische Gerichtshof (Eu GH ) erklärte in der sogenannten Mangold-Entscheidung die dem ersten Hartz-Gesetz eingeführte Einschränkung des Kündigungsschutzes für über Zweiundfünfzigjährige mit dem EU -Recht (Altersdiskriminierungsverbot) als unvereinbar.
20 . 12 . 2007 : Das Bundesverfassungsgericht ( BV erfG) erklärte die mit »Hartz IV « eingeführten Argen für verfassungswidrig.
27 . 1 . 2009 : Das Bundessozialgericht ( BSG ) hielt die Regelleistung für Kinder unter vierzehn Jahren für verfassungswidrig und legte die Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.
9 . 2 . 2010 : Das Bundesverfassungsgericht ( BV erfG) erklärte die Berechnung der Regelleistung generell für verfassungswidrig. Das heißt, sechs Jahre lang, in denen trotz Wirtschaftskrise die leistungslosen Einkommen der Steinreichen und die Konzernprofite weiter gen Himmel schossen, wurden die Arbeitslosen mittels illegaler Gesetze noch weiter verarmt und des letzten Restes an Menschenwürde beraubt. Dennoch blieben die Vorschriften bis zu deren Neuregelung, die Karlsruhe auf spätestens Ende 2010 festgelegt hatte, weiter anwendbar. [610]
Dass es bei der Agenda und den Protesten dagegen nicht ums Geld ging, sondern um das, was man sich dafür kaufen kann, ist nur scheinbar ein zynischer Kalauer: Wer zum Beispiel Geld »investiert«, will mehr Geld daraus machen. Der normale Sterbliche nutzt das Geld großenteils zum Kauf von Konsumgütern, von der Streichholzschachtel bis zum eigenen Häuschen.
Die Spekulantenhorde ebenso wie die Superreichen interessiert dagegen das Geld als »Wert an sich«, nicht die dafür käuflichen Waren. Wenn sie Geld ausgeben, dann »investieren« sie – wie natürlich (fast) jeder Unternehmer auch –, um daraus mehr Geld zu machen. Zwischenzeitlich werden auch Normalbürger zum Börsenzocken verführt, aber kann man ein Gläschen Wein am Tag mit drei Flaschen Scotch pro Tag vergleichen?
Wer aber nun so wenig Geld hat, dass es nicht einmal für ein Glas Bier im Gartenlokal, eine Cola in der Disco oder den Mitgliedsbeitrag im Kegelclub, also die Pflege »sozialer Kontakte«, reicht, für den wird chronische Armut schnell zu einer Existenzfrage: Vor allem drohen Isolation und Verlust der Menschenwürde. Das fängt schon an bei jenen Mitbürgern, die keine Krankheit ernst nehmen, die sie nicht selbst haben oder hatten, keine Gefühle von Frust oder Freude, Trauer oder Glück, die sie nicht selbst schon empfunden haben. Diese Spezies kann oder will sich nicht in Arme und Arbeitslose hineinversetzen; stattdessen stören sie – ähnlich wie Behinderte – das Zerrbild der »heilen Welt«. Also grenzt man sie möglichst höflich und dezent aus. »It’s not an underclass anymore, it’s an outer class«, hatte Bill Clinton im Jahr 1993 kurz nach seinem ersten Amtsantritt als US -Präsident die Ausgrenzung der Armen gekennzeichnet. [611] »Das ist schon keine Unterschicht mehr, sondern eine Schicht
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