Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
ihre Interessen eintraten, verblüffte auch Protestforscher wie den Soziologieprofessor Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Zuvor hätten Arbeitslose versucht, sich als Einzelkämpfer »am eigenen Schopfe aus dem Sumpf« zu ziehen. Doch durch Hartz IV wäre spätestens seit Sommer 2004 alles anders gewesen: »Alle Langzeitarbeitslosen bekommen gleichzeitig ein Antragsformular, und alle wissen, dass sie zum 1 . Januar einen Teil ihrer Leistung verlieren.« Alle hätten »exakt dasselbe Problem« und könnten sich deswegen leichter als »eine Gruppe von Betroffenen organisieren« [606] . Dumme Sachen, leiten doch die Sozialisten seit jeher den Begriff »Arbeiterklasse« gerade aus der gemeinsamen »Stellung im Produktionsprozess« ab, weshalb die neoliberalen Vordenker und ihre Fangemeinden in den Chefetagen geradezu verzweifelt die Vereinzelung und Isolation der Arbeitnehmer und der Arbeitslosen betreiben.
Verbale Rückendeckung von der Politik gab’s – außer von der PDS , für die Hartz IV schon immer »Armut per Gesetz« war – sogar aus den Reihen der Union, die das Gesetz ja mit verabschiedet hatte. So verlangten die Ministerpräsidenten Georg Milbradt (Sachsen), Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) und Dieter Althaus (Thüringen) eine Verschiebung. Hermann-Josef Arentz, Chef des Arbeitnehmerflügels, sprach gar von einem »Verproletarisierungsprogramm für ein bis zwei Millionen Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben und im fortgeschrittenen Alter das Pech hatten, arbeitslos zu werden«.
Ruchts Prognose im August 2004 : »Wenn der Protest laut, frech und groß genug ist, dann gibt die Regierung nach.« [607] Rot-Grün aber dachte nicht daran, wie wir heute wissen.
Als am 23 . August die Gesamtzahl der Demonstranten mit über 200000 ihr »Allzeithoch« erreichte und tags darauf in Wittenberge der Kanzler aus einer Gruppe von etwa 400 wütenden Demonstranten heraus mit Eiern beworfen wurde, warf auch die Abteilung Agitation und Propaganda des Politbüros eines Hamburger Nachrichtenmagazins ihre Hetzmaschinerie an. Man nahm sich zunächst als vermeintlich schwächstes Glied in der Kette des wachsenden Widerstandes die ostdeutschen Anti-Hartz-Kämpfer vor.
»Menschen mit düsteren Gesichtern, viele alkoholisiert, grölende Skinheads und schmächtige Rentner, die erregt mit Anti-Hartz-Plakaten der PDS fuchteln. Längst geht es bei den Protesten im Osten nicht mehr um Hartz IV , um Freibeträge oder Zumutbarkeitsregeln – längst ist der Protest umgeschlagen in eine Mischung aus Ressentiments und blankem Hass gegen Wessis, Demokratie und ›die da oben‹.« [608] An welche Zeit und welche Presseorgane hatte diese Beschreibung des »Feindes« die Generation Helmut Schmidt und alle an der deutschen Vergangenheit Interessierten wohl erinnert?
18 . 9 .: 5000 Menschen demonstrierten in Frankfurt gegen Roland Kochs »Kahlschlag«. Da Hessens Ministerpräsident zwar nur Schröders Agenda umsetzte, man ihm aber den Sozialabbau in die Schuhe schob, waren natürlich die Gewerkschaften auch dabei – die alle Demos gegen ihre rot-grünen Geschäftspartner strikt boykottierten.
24 . 9 .: Der Bundestag verabschiedete die Drucksache 15 / 3674 , der rot-grüne Gesetzesentwurf zu Harz IV .
2 . 10 .: 50000 Menschen demonstrierten in Berlin im Rahmen des Europäischen Protesttages gegen Hartz IV und andere Agenda-»Reformen«, aber auch gegen Krieg und Rassismus. [609] Viele sahen den Umzug als »Montagsabschiedsdemo«: Die gesamte Agenda 2010 war jetzt endgültig durch, zudem wurden die Montagsumzüge deutlich kleiner.
Nun war es aber ein Irrtum, das Verfehlen eines Ziels an einer konkreten Front für eine Niederlage bei der Verteidigung des Sozial- und Rechtsstaats insgesamt zu halten.
Erstens macht ein »harter Kern« bis heute weiter. Man will mit den Montagsdemos und anderen Aktivitäten erst aufhören, wenn die Agenda 2010 samt Hartz IV vollständig zurückgenommen worden ist.
Zweitens bestätigt der Kampf gegen das asoziale Gesetzesmonstrum einmal mehr die Entwicklung in den Jahren danach bis in die Gegenwart die Volksweisheit
Wo Unterdrückung ist, da ist auch Widerstand.
Und man kann Wetten darauf abschließen, dass die herrschende Politik nie damit aufhören wird, den Bürgern zugunsten der Reichen und Mächtigen ans Portemonnaie und an die Lebensqualität zu wollen – und dass sich ebenso oft neuer Widerstand regen und eine neue Abwehrfront entstehen wird.
Drittens
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