Die Rebenprinzessin
gewatet. Er kämpfte sich durch weitere Wurzelteppiche und erreichte schließlich ein Gitter, durch das Mondlicht zu ihm hereinfiel.
Geschafft, ging es ihm erleichtert durch den Sinn, und nach einer kurzen Verschnaufpause öffnete er die Pforte. Die Angeln quietschten markerschütternd, aber hier draußen hörten ihn wohl nur die Käuzchen und Füchse, die auf der Suche nach Beute waren. Wo er sich befand, wusste er nicht genau, aber immerhin konnte er erkennen, dass es sich um einen Abhang handelte, der zum Fluss führte. Der Weg war steil und völlig zugewachsen; hier war seit Urzeiten niemand entlanggelaufen.
Offenbar war die Angst meines Urgroßvaters größer als die unserer Familie drohende Gefahr, ging es Martin durch den Sinn, dennoch dachte er dankbar an den alten Herrn, als er sich an den Abstieg machte.
22. K APITEL
Der Morgen trug ein dunkelgraues Trauergewand, als Bella der Kutsche entgegenstrebte. Ihren Mantel hatte sie sich fest um die Schultern gewickelt, und auf dem Boden schleifte der Saum ihres Ordenskleides über das Pflaster und verwehte etwas Laub, das über Nacht auf den Hof geweht worden war.
Obwohl sie die mitleidigen Blicke der Bediensteten spürte, hob sie zu keiner Zeit den Kopf. Ihr könnt mir ohnehin nicht helfen, dachte sie betrübt, niemand kann das. Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn ich für alle Zeiten den Schleier nehme.
Einen Abschied von ihrem Vater hatte es nicht gegeben. Seit dem vergangenen Abend hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und die letzten Anordnungen hatte ihr Heinrich Oldenlohe überbracht.
Sie erinnerte sich daran, dass sie im Gesicht des Boten einen mitfühlenden Zug bemerkt hatte. So etwas erlaubte sich Heinrich nur selten. Fast hatte es so gewirkt, als wollte er sogar nach ihrer Hand greifen, um sie zu trösten. Getan hatte er es zwar nicht, aber Bella war ihm schon für den Anschein dankbar.
Am frühen Morgen waren dann die Mägde erschienen. Zu wecken brauchten sie Bella allerdings nicht, denn seit der dritten Stunde hatte die junge Frau am Fenster gesessen und auf den Himmel geblickt.
Bella hatte die Mädchen gleich wieder weggeschickt, denn zum Anlegen ihres Ordenskleides brauchte sie keine Hilfe. Der raue Stoff auf ihrer Haut hatte ihre Sinne geordnet, so dass sie nun mit sich im Reinen war. Sie würde die nächsten Jahre im Kloster verbringen, vielleicht sogar den Rest ihres Lebens. Das war nicht die schlechteste aller Möglichkeiten, denn es ersparte ihr eine Heirat mit Roland von Hohenstein.
Allerdings schmerzte ihr Herz furchtbar angesichts der Tatsache, dass sie Martin wahrscheinlich nie wieder sehen würde, denn sein Vater würde ihn gewiss nicht mehr fortlassen. Mit der Zeit wird er mich vergessen, schlich es bitter durch ihre Gedanken. Vielleicht wird er sogar in Kürze vermählt.
Während sie auf die Kutsche zuschritt, hob sie zu keiner Zeit den Blick. Weder Katrina, deren Anwesenheit sie spüren konnte, noch die Burg wollte sie an diesem Tag sehen, denn sie fürchtete, dass sich die Bilder unvergesslich in ihr Gedächtnis einbrannten und sie marterten, sobald sie wieder in die Abgeschiedenheit des Klosters eintrat.
Sie erklomm das Gefährt und ließ sich auf den lederbezogenen Sitzen nieder. Wenig später stieg Heinrich Oldenlohe zu, und auch ihn würdigte Bella keines Blickes. Immerhin hatte er die Häscher angeführt, und auch wenn es für sein Pflichtbewusstsein sprach, dass er den Befehl ihres Vaters so gewissenhaft ausgeführt hatte, empfand sie für den Waffenmeister mittlerweile nur noch Hass. Natürlich konnte sie ihm während der Fahrt nicht entgehen, aber sie brauchte nicht mit ihm zu reden oder ihn anzusehen.
Viele Gepäckstücke hatte sie nicht zum Mitnehmen, und auch das grün-rote Kleid hatte sie hiergelassen. Alles, was sie brauchte, bekam sie ohnehin im Kloster. Einzig das Winzermesser von Meister Wackernagel hatte sie behalten. Sie wollte es als Erinnerung an den Tag mitnehmen, der wohl ihr glücklichster auf der Burg war. Jenen Tag der Lese, als Martin sie Rebenprinzessin genannt hatte.
Da ruckte die Kutsche an und vertrieb ihre Gedanken, als der Hufschlag der Pferde laut über den Hof hallte. Bella blickte zwar aus dem Fenster, doch sie schenkte den Gesichtern, die sie neugierig anstarrten, keine Beachtung. Es war besser so, wenn sie alles gleich vergaß, dann plagte sie auch nichts, wenn sie in ihrer kalten Zelle saß und ihrem Leben dabei zusah, wie es ohne Freude verging.
Gernot von Bärenwinkel
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