Die Rebenprinzessin
es ausgebleicht, aber früher musste es einen furchtbaren Anblick geboten haben.
»Warum habt Ihr eigentlich ein Auge verloren?«, wagte Martin seiner Neugierde nachzugeben, nachdem sie das Ufer, das zum Besitz der Familie Bärenwinkel gehörte, ein Stück weit hinter sich gelassen hatten.
Wenn ihn der Fährmann dafür ins Wasser stieß, musste er eben schwimmen, aber das war es ihm wert.
Adam Höllerich stakte noch eine Weile mit nachdenklichem Gesichtsausdruck durch das Wasser, dann antwortete er: »Das ist eine sehr lange Geschichte.«
»Welche Version erzählt Ihr mir? Die Wahrheit? Oder das, was Ihr zum Besten gebt, um die Leute zu unterhalten?«
Der Fährmann betrachtete den Jungen aufmerksam, dann sagte er: »Wärst du denn auch bereit, mir zu verraten, was dich dazu treibt, wieder überzusetzen? Eine Geschichte gegen die andere, was meinst du?«
»Woher weiß ich, dass Ihr nicht lügt?«
»Das kannst du nicht wissen. Aber so wahr ich dich auf die andere Seite des Ufers bringe, werde ich dir auch die wahre Version meiner Geschichte erzählen – vorausgesetzt, du lügst mich nicht an.«
Martin hätte beinahe eingewandt, dass auch der Fährmann sich nicht sicher sein konnte, aber irgendetwas sagte ihm, dass Adam Höllerich mit seinem verbliebenen Auge mehr sehen konnte als andere Menschen mit zweien.
»Also gut, abgemacht.« Er reichte dem Flößer die Hand. »Meine Geschichte gegen Eure.«
Der Fährmann wechselte die Stake in die linke Hand, dann umschlossen seine Finger die von Martin.
»Du fängst an.«
Martin überlegte, wie schnell er sein musste, damit er zum Ende kam, bevor sie das Ufer erreicht hatten. Er konnte sich vorstellen, dass Adam Höllerich sein Versprechen rückgängig machte, wenn er erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Also raffte er die Ereignisse so gut wie möglich zusammen, und einzig von seiner Liebe zu Bella und seinem Vorhaben, sie aus den Fängen ihres Vaters zu befreien, erzählte er ausführlich.
»Ah, es geht also um eine Frau.« Der Fährmann lachte auf. »Es ist doch seltsam, dass die Weibsbilder fast immer die Geschichten von uns Männern bestimmen.«
»Ist denn für Euer Missgeschick auch eine Frau verantwortlich?«, wollte Martin wissen.
»Ja und nein«, antwortete der Fährmann und spähte zum Ufer hinüber, das inzwischen schon ein ganzes Stück näher gekommen war.
Martin wandte sich ebenfalls um, in der Annahme, dass ihn Adam Höllerich wirklich um seine Geschichte betrügen wollte. Doch ihnen blieb noch genügend Zeit.
»Mein Unheil begann eigentlich damit, dass ich mir in den Kopf gesetzt hatte, ein großer Krieger zu werden. Ein Ritter vielleicht, wie man sie in den alten Liedern besungen hat. Mein Vater war der Vasall des ungarischen Königs, und als dieser eines Tages zu einem Kreuzzug gegen die heranrückenden Osmanen aufrief, lief ich meinem Vater und dem Leben als rechtschaffener Bauer davon. Zusammen mit Soldaten aus dem Burgund rannten wir gegen die Mauern von Nikopolis an, einer Festung, die damals in osmanischer Hand war. Die Belagerung brachte nicht viel ein, und erst durch Johanniter, die uns zur Seite eilten, sahen sich die Osmanen gezwungen, zu handeln. Es kam zu einer großen Schlacht, in deren Verlauf viele meiner Kameraden getötet wurden und sich der König in Schande zurückziehen musste. Ich war unter denen, die schwer verletzt überlebten – aber meine Augen hatte ich da beide noch. Anstatt mir einen Spieß durch die Brust zu jagen, nahmen mich die Osmanen mit und bildeten mich zu einem Kämpfer aus. Sie versuchten auch, mich zu ihrem Glauben zu bekehren, doch es gelang mir, mich so gut wie möglich davon fernzuhalten. Eines Tages erblickte ich auf dem Weg zu meiner Kaserne eine junge Frau. Sie war die Schönste, die ich je in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Fürwahr, wenn sie mich gebeten hätte, den Glauben zu wechseln, ich hätte es getan. Doch sie war die Tochter des Kommandanten der Burg. Meine Leidenschaft schien also von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Doch eines Tages bekam ich die Gelegenheit, mit ihr zu reden. Heimlich und unter Androhung der Todesstrafe traf ich mich danach immer wieder mit ihr. Du musst wissen, dass es bei den Osmanen verboten ist, als Andersgläubiger ihre Frauen anzusehen. Aber mir war das egal. Eine Minute mit ihr war wie ein Jahr, eine Stunde wie ein ganzes Leben. Auch wenn über mir das Henkersbeil schwebte, war ich der glücklichste Mann der
Weitere Kostenlose Bücher