Die Rebenprinzessin
Weinstöcke, die ihrem Winterschlaf entgegendämmerten.
Weit kam sie nicht, denn eine Stimme hinter ihr rief: »Bella!«
Die Grafentochter schnappte erschrocken nach Luft und blickte sich gehetzt um. Zunächst glaubte sie, jemand aus dem Kloster sei ihr gefolgt, doch dann wurde ihr bewusst, dass es sich nicht um eine Frauenstimme gehandelt hatte. Wenig später ertönte neben ihr ein Rascheln, und ein paar welke Blätter stoben zu Boden. Es war, als würde sich ein Keiler durch den Weinberg wühlen. Im nächsten Moment stand Martin vor ihr. Er wirkte hohlwangiger und fahler, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber er war zweifelsohne Martin, ihr Liebster und der Vater ihres Kindes. Martin, der sich unter falschem Namen in die Burg ihres Vaters eingeschlichen hatte.
Der letzte Gedanke hielt sie davon ab, sogleich zu ihm zu laufen und ihm um den Hals zu fallen.
»Was ist denn, Bella?«, fragte Martin beinahe schon flehend. »Erkennst du mich denn nicht?«
»Doch«, antwortete sie beklommen.
»Warum kommst du dann nicht zu mir?«
Bella fiel es schwer, die Arme, die er nun ausbreitete, um sie aufzufangen, nicht zu beachten. Sie umschlang ihre Schultern, als müsse sie sich selbst zurückhalten. »Was hattest du auf unserer Burg zu suchen, Martin von Bärenwinkel?«, fragte sie so ruhig, wie es ihr in dieser Situation nur möglich war.
Martin atmete tief durch. Die Stunde der Wahrheit war also gekommen.
»Wage ja nicht, mich noch einmal zu belügen!«, setzte Bella gleich hinzu.
Der Junge senkte einen Moment lang verlegen den Kopf, und als er wieder aufblickte, sagte er: »Mein Vater wollte, dass ich das Geheimnis eurer Weinmacher ausspioniere.«
Bella zog die Augenbrauen hoch, überrascht darüber, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. »Geheimnis? Was als Trauben und einen Keller sollte es bei uns schon geben?«
»Frag das nicht mich, sondern meinen Vater«, gab Martin schulterzuckend zurück. »Er glaubt, euer Erfolg beim Weinkeltern gehe auf ein Geheimnis zurück. Ein Zauber, besondere Zutaten oder ein bestimmter Dung für die Reben. Er hat alles in Erwägung gezogen und mich gezwungen, bei euch herumzuschnüffeln.«
»Gezwungen? Warum sollte er das tun?«
»Weil er nicht wollte, dass ich ein Wirtsmädchen heirate. Ich habe in Padua studiert und mich dort verliebt. Alles hätte wunderbar sein können, doch mein Vater hatte einen Spion auf mich angesetzt. Er zitierte mich zurück und drohte, mich zu verheiraten, wenn ich nicht tue, was er verlangt.«
Bella schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Wenn du ein Geheimnis gefunden hättest, hättest du es ihm verraten?«
»Vermutlich ja«, gab Martin freimütig zu. Bella hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. »Wenn ich ehrlich bin, hatte ich sogar schon begonnen, deinem Vater das Geheimnis zu entreißen. Der neue Wein … Ich habe einen Ableger angelegt.«
Bella legte den Kopf zur Seite. »Du weißt, dass es einige Wochen dauert, bis der Ableger Wurzeln bildet.«
»Das hatte ich bedacht. In der Zwischenzeit …«
»Wolltest du dir ein wenig die Zeit vertreiben, indem du dich an die Tochter des Grafen heranmachst«, vollendete sie seinen Satz.
»Nein, das nicht, ich …« Martin schämte sich jetzt fast dafür, dass er kurz nach dem Rauswurf aus der Burg daran gedacht hatte, Bella nur deshalb fortzuholen, um es ihrem Vater heimzuzahlen. »Es war Zufall, dass wir uns begegnet sind. Ich sah dich an meinem ersten Tag auf der Burg und hielt dich zunächst für eine Magd. Erst bei dem Zusammenstoß mit deinem Vater im Weinberg wusste ich, wer du warst. Du musst zugeben, dass wir uns auf Anhieb verstanden haben.«
»Dennoch könntest du dich mir nur genähert haben, weil du etwas herausbekommen wolltest.«
»So war es nicht!«, hielt Martin dagegen. »Du wusstest ja nicht mal etwas von den neuen Rebstöcken.«
»Damit hast du nicht gerechnet, was?«
Martin seufzte auf. Zu keinem Zeitpunkt hatte er damit gerechnet, dass eine Lüge so viele Schwierigkeiten machen könnte. »Nein, das konnte ich nicht wissen. Aber ich hatte nie vor, dich auszunutzen. Was ich in Erfahrung bringen wollte, habe ich selbst herausgefunden. Falls es dich beruhigt, mein Vater hat den Ableger nicht bekommen. Er steckt noch immer im Boden eures Weinbergs, und nun werde ich meinem alten Herrn ganz bestimmt nicht mehr helfen.«
Bella brauchte eine Weile, um die Worte zu verarbeiten. Ist das die Wahrheit?, fragte sie sich, und endlich erlaubte sie ihrem Herzen, die
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