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Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Folco
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angebracht.
    »Sie waren noch sehr jung«, sagte der Anwalt zu seinem Gastgeber, der während der Besichtigung geschwiegen hatte.
    »Ich hatte gerade meinen vierzehnten Geburtstag gefeiert... Aber da kommt Casimir. Kommen Sie, wir wollen uns setzen.«
    Malzac trank seinen Rotwein aus einem glasierten Becher, auf dem die Eroberung Jerusalems während des ersten Kreuzzuges dargestellt war. Der Wein erwies sich - wie alles in diesem Haus - als erstklassig. Hippolyte trank Wasser aus einem ähnlichen Becher, auf dem naturgetreu die Eroberung von Antiochia durch Bohémond und Raimond von Toulouse gezeigt wurde.
    » Ich höre, Monsieur Malzac «, sagte Hippolyte schließlich.
    Malzac räusperte sich, ehe er eine Geschichte über die Gründe erfand, die ihn dazu gebracht hatte, eine Abhandlung über den Beruf des Henkers zu schreiben.
    »Zunächst hatte ich die Absicht, eine allgemeine Abhandlung zu schreiben, aber nach meinem Treffen mit Ihrem Kollegen aus Albi, Monsieur Chopette, habe ich meine Meinung geändert. Ich habe mir überlegt, daß ich mein Vorhaben, ausgehend von der umfassenden Geschichte einer Familie, wesentlich eindringlicher verdeutlichen könnte. Oder besser gesagt, einer Dynastie, denn in Ihrem Fall handelt es sich ja wohl um eine Dynastie.«
    Er wies mit einer ausholenden Geste auf die Bilder.
    »Wir sind tatsächlich eine der wenigen Familien, in der sieben aufeinanderfolgende Generationen zu diesem Amt ernannt wurden. Chopette ist ein Bingre, der Ihnen nicht viel hätte erzählen können.«
    »Ein Bingre?«
    »So nennen wir die Familien, die seit weniger als hundert Jahren im Amt sind. Jeder Beruf hat seine eigene Sprache, da macht auch der unsere keine Ausnahme.«
    »All Ihre Vorfahren hießen Justinien ... «
    »Alle Erstgeborenen wurden auf diesen Namen getauft, das war bei uns von jeher Tradition. Ich bin der jüngere, und wenn mein Bruder nicht umgekommen wäre, ohne Nachfahren zu hinterlassen, würde er Ihnen jetzt gegenübersitzen und nicht ich.«
    »Hat Ihr Bruder sich umgebracht?«
    »Umgebracht? Was für ein Einfall! Nein, er ist bei einer Hinrichtung durch einen Unfall ums Leben gekommen. Da er noch unverheiratet war, ist das Amt auf mich übergegangen. Aber ich war erst vierzehn Jahre alt und hatte keinerlei Erfahrung in Sachen Hinrichtung. Ohne das Einschreiten meiner Mutter Clémence wäre ich niemals ernannt worden, und das Amt wäre uns entgangen. Darum hängt auch ihr Bild in der Ahnengalerie.«
     
    Die Nachricht vom Tod des Sechsten hatte das Haus wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel getroffen.
    »Was erzählt ihr da, ihr Unglückseligen?« hatte Clémence ausgerufen und Victor und Casimir, die beiden weinenden Henkersknechte, ungläubig angestarrt.
    »Alles ging sehr schnell. Er ist einen Schritt zu weit zurückgetreten, vom Schafott gefallen und hat sich, als er auf die Pflastersteine schlug, den Hals gebrochen. Er war sofort tot.«
    Offensichtlich erwies sich das Jahr 1850 als ausgesprochen unheilvoll für die Familie. Zuerst der Fünfte, der vor der Zeit verschieden war, nachdem er bei einer Jagdpartie von einem Fuchs gebissen worden war, und jetzt der Sechste, sein Sohn. Vor einem Monat hatte er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, und nun war das Amt zum ersten Mal seit einhundertsiebenundsechzig Jahren verwaist, da er keine direkten Nachkommen hinterlassen hatte. Alle Blicke wandten sich auf seinen Bruder Hippolyte.
    Sobald der Sechste in der Krypta beigesetzt worden war, hatte sich Clémence in die Präfektur nach Rodez begeben, um die Ernennung ihres jüngsten Sohnes zu verlangen.
    »Aber Ihr seid ja nicht bei Trost, Madame, er ist noch ein Kind«, empörte sich der Präfekt beim Anblick des Jungen.
    »Aber er ist ein Pibrac, Herr Präfekt, er wird sein Handwerk schnell lernen, das garantiere ich Euch. In der Übergangszeit werden unsere Henkersknechte Felix und sein Sohn Casimir die Arbeit übernehmen, sie sind sehr gut ausgebildet.«
    Da der Präfekt noch nicht lange im Amt war und die Sitten und Gebräuche nicht kannte, befand er dieses Angebot für unschicklich und vollkommen fehl am Platz. Das teilte er der Witwe mit und gab ihr dann, indem er auf die Tür wies, zu verstehen, daß die Unterredung beendet sei.
    Clémence hob den schwarzen Trauerschleier, der sie an der Nase kitzelte, und sagte mit fester Stimme, die durch sämtliche Wände drang:
    » Seit einhundertsiebenundsechzig Jahren töten wir für Euch, seit einhundertsiebenundsechzig Jahren behandelt Ihr

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