Die rechte Hand Gottes
Verbrechen war zu geringfügig, um Leidenschaft zu entflammen, das einzige, was an dem Fall von Interesse war, war seine Hinrichtung.
Hippolyte setzte sich zwischen Félix, der die Zügel hielt, und Casimir, der den Gefangenen bewachte. Clémence ging neben dem Wagen her und schlug bisweilen mit ihrem Schirm auf die Rüstleiter, um ihrem Sohn Anweisungen zu geben:
»Halt dich gerade, alle sehen dich an!«
»Sie sehen nicht ihn an, sondern mich!« protestierte
Magne, der sich hingesetzt hatte, um nicht von dem Geholper des Wagens umgerissen zu werden.
» Sie «, rief ihm die Witwe zu, die durch den schnellen Gang außer Atem geraten war, »Sie täten besser daran, darüber nachzudenken, was Sie Petrus erzählen werden, wenn Sie ihm mit Ihrem Kopf unter dem Arm gegenüberstehen!«
Magnes Gesicht wurde aschfahl. Er senkte den Blick und schien über den Rat der Witwe nachzudenken.
Der Zug erreichte die Rue Droite, als eine weibliche Stimme das Getöse übertönte. Sie schrie ein herzzerreißendes »Adieu, Louis«, das selbst die Herzen der Härtesten erweichte. Magne sprang mit wirrem Blick auf, doch ein Stoß des Wagens warf ihn wieder zu Boden. Einige sagten, es sei seine alte Mutter gewesen, andere behaupteten, es habe sich um seine Geliebte, ein Mädchen aus der Auvergne, das im sechsten Monat schwanger war, gehandelt. Doch niemand wußte es genau, und es sollte für immer ein Geheimnis bleiben.
Wie es das Gesetz verlangte, stieg Hippolyte als erster auf die Richtbühne, die in der Sonne blitzte wie ein gewichster Schuh.
Seine Mutter stand am Fuß der Plattform und legte ihre Hände wie einen Trichter an den Mund, um ihm eindringliche Ratschläge zu geben: »Gib acht, wo du hintrittst. Mach es nicht wie dein unglücklicher Bruder! «
Kaum hatte Magne das Schafott erreicht, fiel er auf das Schaukelbrett, das nach Bienenwachs roch. Kräftige Hände hielten ihn fest, während er unter das hochgezogene Fallbeil glitt. Seine Schultern stießen gegen die Halsmulde. Zu seiner Überraschung sah sich Magne dem dritten Gehilfen Riquet gegenüber, der seine Ohren ergriff und seinen Kopf richtig unter dem Fallbeil plazierte.
»Jetzt sieh hin, Hippolyte. jetzt kommt der entscheidende Augenblick «, das waren die letzten Worte, die er hörte, ehe er vor den Heiligen Petrus trat.
Später, auf dem Nachhauseweg, beglückwünschte Félix Hippolyte feierlich zu seinem Verhalten gegenüber dem störrischen Magne.
Er wühlte in seinen Taschen, zog schließlich den Hemdkragen des Verurteilten hervor und schenkte ihn Hippolyte.
» Hier, ich habe ihn für Sie aufgehoben «, sagte der sechzigjährige Knecht, der ihn zum ersten Mal siezte. »Ihr Großvater hat immer gesagt, daß der erste ein Glücksbringer ist.«
Was für eine Geschichte, dachte Nicolas Malzac.
»Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zeigen, was bis heute nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen haben «, sagte sein Gastgeber.
Er folgte ihm in ein rundes Zimmer. Casimir öffnete die Läden, die Blicke auf den Hof boten. Malzac vermutete, daß er sich in einem der Türme befand. An den Wänden hingen verglaste Vitrinen, in denen Dutzende und Aberdutzende von Hemdkragen lagen. Jeder war mit einem Etikett versehen, das den Namen seines Besitzers und das Datum seiner Hinrichtung angab. Der von Louis Magne, mit der Nummer 1, war in einem eigenen Kasten ausgestellt.
»Guter Gott, das ist... das ist ... «
»Einzigartig.«
Der Anwalt, überwältigt von all den Dingen, die er seit seiner Ankunft im Herrenhaus gesehen hatte, stimmte aus vollster Überzeugung zu. Manchmal, wie jetzt angesichts dieser unglaublichen Sammlung, vergaß er beinahe den Grund seines Besuchs. Alle Größen, Zeiten, Farben und Materialien, von der feinsten Seide bis zur derben Baumwolle, waren vertreten. Einige von ihnen hatten offensichtlich zu weiblichen Kleidungsstücken gehört. Der letzte, ein weißer, eher schmutziger Kragen, trug die Nummer 208 und war mit der Aufschrift Thomas Lerecoux, Freitag, 17 Januar 1902, Place du Trou, Bellorocaille versehen.. Der vorhergehende Kragen mit der Nummer 207 aus buntem Leinen hatte kein Etikett.
»Warum ist dieser nicht beschriftet?«
»Es war ein Unbekannter«, erwiderte Hippolyte knapp.
Sie gingen zurück in das große Zimmer.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang verabschiedete sich
Malzac von seinem Gastgeber, der ihm die Erlaubnis gab, am nächsten Tag wiederzukommen.
Er aß zerstreut zu Abend. Sein Geist war erfüllt von dem, was er gesehen
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