Die rechte Hand Gottes
Melchior konnte sich noch so sehr anstrengen und sich die Nasen aller Edelmänner der Gegend in Erinnerung rufen, es kam ihm keine in den Sinn, die auffallend genug gewesen wäre, um eine solch boshafte Tat zu rechtfertigen.
Der Prälat konnte das Klosterportal bereits erkennen, als er einen streunenden Hund bemerkte, der am Sockel der Statue seines Ahnen nach irgend etwas schnappte und sich, als er näherkam, knurrend davonmachte. Woher hätte er wissen sollen, daß das Tier die Nase entdeckt hatte, die man dem Neugeborenen zwei Stunden zuvor abgebissen und in den Staub gespuckt hatte?
Später am Abend öffnete Abbé Melchior das Geburtsregister von Roumégoux und trug das Kind unter dem Namen Justinien Trouvé ein. Justinien in Erinnerung an den Basileus, den byzantinischen Kaiser Justinien Rhinotmetos der, dem seine Feinde die Nase abgeschnitten hatten -, und Trouvé - Findling -, weil das neben Dieudonné und Deodatus der Nachname war, den man Findelkindern gab.
Gegen Ende des Sommers lächelte Justinien zum ersten Mal und fing an zu brabbeln, wenn man mit ihm sprach. Zu Eponine kroch er auf allen vieren und nahm alles in den Mund, was er in die Finger bekam. Zu Ostern hörte er auf seinen Namen und führte mit drei oder vier Worten Gespräche mit den Hunden, den Hühnern, den Ameisen und dem Tischbein.
Zu seinem ersten Geburtstag, am 10. Juni 1664, erschien der Großwächter Melchior Fendard wieder bei den Coutoulys. Er zeigte sich sehr zufrieden, ein gutgewachsenes, pausbäckiges Kind mit einer gesunden Gesichtsfarbe vorzufinden, das sogar schon in der Lage war, ein paar Schritte zu gehen. Ohne diese klaffende, fleischfarbene Wunde ...
»Ich gratuliere dir, meine Tochter, das ist ja ein Kerlchen, das nur so vor Gesundheit strotzt.«
Justinien, der von dem großen Kruzifix aus vergoldetem Silber angezogen wurde, das um den Hals seines Paten hing, plapperte vor sich hin und breitete seine Ärmchen aus, um danach zu greifen.
Der Geistliche mißverstand diese Geste und sagte mit gerührter Stimme: »Dieses liebe Kind erkennt mich wieder.«
Mit fünf Jahren kletterte Justinien bereits auf Bäume, und Martin brachte ihm Lesen und Schreiben bei, zunächst mit einem Leitfaden zur Kindererziehung und später mit der Ilias und der Odyssee.
Am Zehnten des Monats ging Éponine zum Kloster und holte sich ihren Lohn, und an jedem 10. Juni besuchte der Großwächter seinen Schützling und stellte erneut fest, daß er » ordentlich gewachsen und für sein Alter ein helles Köpfchen« sei.
Vielleicht werden wir einen Wächter aus ihm machen? (lachte er gerührt.
An dem Tag, als Justinien sieben Jahre alt wurde, kam Abbé Melchior wie gewöhnlich zu einem Besuch vorbei, doch in diesem Jahr tätschelte er ihm nicht wie sonst die Wangen oder beglückwünschte seine Ziehmutter zu dem freundlichen Kind, sondern er nahm den jungen bei der Hand und brachte ihn in die Gemeindeschule.
Zu jener Zeit hatte Justinien keine Nase, und sein Erscheinen versetzte seine Mitschüler, die ihn für einen Aussätzigen hielten, in Aufruhr. Es bedurfte der ganzen Autorität des Großwächters, um die Klasse wieder zur Ruhe zu bringen.
»Justinien hat einen Unfall erlitten. Das ist ein großes Unglück, und es wäre ungerecht, davor Angst zu haben oder es ihm nachzutragen.«
Da es nicht genügend Bänke und Pulte für alle gab, bedeutete ihm der Schulmeister auf dem gestampften, binsenbedeckten Lehmboden Platz zu nehmen. Justinien setzte sich, seiner Größe entsprechend, hin und senkte den Kopf, weil es ihm unangenehm war, von allen angestarrt zu werden. Er wartete die erste Pause ab, um sich davonzumachen und zu seinen Adoptiveltern, den Coutoulys, zurückzulaufen.
Éponine hatte eben ein Stück Brot auf ihre Messerspitze gesteckt und schälte Zwiebeln, ohne dabei zu weinen, und Martin schnitzte gerade an einer Gallionsfigur für eine spanische Galeone, als Justinien in das große Zimmer mit der niedrigen Decke stürmte.
»Warum habe ich nicht wie alle eine Nase?«
Die Coutoulys sahen sich an. Das hätten sie auch gerne gewußt.
»Wir wissen es nicht, mein Junge. Alles, was Monseigneur uns gesagt hat, als er dich zu uns brachte, war, daß man dich so vor dem Portal des Klosters gefunden hat.«
»Er hat gesagt, ich hatte einen >Unfall<. Was ist das, ein Unfall?«
Der ehemalige Seefahrer kratzte sich mit der Klinge seines Messers im Nacken.
»Hmm, hmm ... Ein Unfall, nun ja ... ein Unfall ist es, wenn zum Beispiel, wie
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