Die rechte Hand Gottes
letztes Jahr, der Sohn der Toizacs von der Postkutsche überfahren wird. Seither fehlt ihm ein Bein, und er kann nicht mehr arbeiten ... Was Monseigneur sagen wollte, ist, daß es nicht deine Schuld ist, daß du keine Nase hast.«
»Es passierte, als du noch ein kleines Würmchen warst«, erklärte Éponine. »Eines Abends kam Monseigneur durch diese Tür, du lagst in einem Korb, und da hattest du schon keine Nase.«
»Wie ist das passiert?«
»Ah, das hat er nicht gesagt.«
»Ich hatte also auch mal eine Nase«, sagte der Junge. Warum hatte man sie ihm weggemacht, und wer hatte so etwas getan?
Darauf wußten weder Martin noch Éponine eine Antwort.
Justinien weigerte sich, in die Schule zurückzukehren, und ging statt dessen zum befestigten Kloster des Ordens, das im XI. Jahrhundert in einem Tal, eine Meile vom Marktflecken entfernt, errichtet worden war.
Als er vor dem großen, mit dem Wappen der Fendards verzierten Portal angekommen war, zog er an der Glocke. Während er wartete, besah er sich die steinerne Statue des Bannerherrn Gauthier Fendard, dem Begründer des Ordens der Wächter der immerwährenden Anbetung des Heiligen Präputiums. Dort also hatte sein amtlich registriertes Leben begonnen!
Abbé Melchior Fendard, zwölfter Großwächter des Ordens, grübelte wieder einmal vor einem Topf voll kochenden Wassers darüber nach, wie dieses unerklärliche Wunder zustande kam, daß alles Wasser, das man zum Sieden gebracht hatte, irgendwohin verschwand, als der Bruder Pförtner sein Patenkind zu ihm in die Küche brachte. Er runzelte die Stirn.
»Was tust du hier? Du solltest doch im Unterricht sein.«
Der Junge war näher getreten und hatte ihm die Hand geküßt.
» Ich bitte Euch, Pate, sagt mir, wer meine Eltern sind und warum ich keine Nase mehr habe.«
Der Abbé gab sich unwissend.
»Als Eusebius dich vor dem Portal fand, warst du schon so.«
»Aber warum, Pate? Hatte ich etwas Böses getan?«
»Du hattest überhaupt nichts getan! Du warst nicht viel größer als ein Steckling. Noch viel zu klein, um etwas Böses tun zu können.. . oder etwas Gutes.«
»Warum hat Gott dann so etwas geschehen lassen?«
Der Prälat seufzte. Ihm mißfielen die Fragen des Jungen und noch mehr mißfiel ihm der Ton, in dem er sie stellte. Was konnte er ihm darauf antworten? Er selbst wußte kaum mehr. Auf den Tag genau vor sieben Jahren hatte Bruder Eusebius nach dem Vespergottesdienst einen Reiter bemerkt, der einen Korb am Fuße der Statue des Gründers abstellte. Er war zu weit weg gewesen, um sagen zu können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte, doch er hatte gesehen, wie der Reiter (oder die Reiterin) zögerte, umkehrte, das Kindchen aus dem Korb hob, als wolle er (sie) ihm ein letztes Mal Lebewohl sagen, und ihm dann mit einem kräftigen Biß die Nase abtrennte. Danach stieg er oder sie wieder in den Sattel, gab dem Pferd die Sporen und verschwand auf der Straße in Richtung Racleterre.
Der Abbé legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Höre, Justinien, die Wege des Herrn sind unergründlich. Er allein weiß es. Vielleicht wird Er dir eines Tages auf deine Fragen eine Antwort geben, aber im Augenblick solltest du deinen Verstand wohl besser für die Schule nutzen. Vergiß nicht, wenn du nicht ordentlich lesen, schreiben und rechnen kannst, kann selbst ich dir nicht ermöglichen, im Seminar aufgenommen zu werden. Und das wäre doch jammerschade, denn wenn man bedenkt, daß wir alle sterblich sind und uns am jüngsten Tag eine gestrenge Prüfung erwartet, dann ist es doch die Pflicht eines jeden Christen, für sein ewiges Seelenheil zu sorgen, nicht wahr? Glaube mir, mein Kind, sein Leben Gott zu weihen ist der schnellste Weg, um für sein persönliches Seelenheil zu sorgen. Geh nun, kehre zum Unterricht zurück, entschuldige dich in aller Form beim Schulmeister und mach mir Ehre! «
Justinien ging. Er war besorgt um seine Zukunft und wenig geneigt, einem Gott zu dienen, der es zuließ, daß einem völlig unschuldigen Wesen die Nase abgebissen wurde, ohne daß Er eingriff. Wer sonst hätte es gekonnt? Der Junge schloß daraus, daß Gott ihn aus unerfindlichen Gründen nicht liebte, und er beschloß, auf der Hut zu sein. Er gehorchte seinem Paten nicht und ging nicht zurück in die Schule, sondern verbrachte statt dessen den Tag damit, am Ufer des Flusses, erfüllt von einem Gefühl der Ungerechtigkeit, zu sitzen.
Am nächsten Tag wie auch an den folgenden Tagen blieb er zu
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