Die rechte Hand Gottes
sie mir abschlägst.«
»Ich höre.«
»Ich möchte dir morgen gerne assistieren.«
Da er der oberste Henker war, konnte Anatole jeden, den er wollte, einstellen. Obgleich ihm die Idee mißfiel (er ahnte Komplikationen), erklärte er sich einverstanden, denn er brachte es nicht übers Herz, dem einzigen Freund, den sein Vater je gehabt hatte, etwas abzuschlagen. Außerdem war Hippolyte in der kleinen Welt der fünfundsechzig Henkerfamilien eine Art lebende Legende, und er hatte ihm von jeher Achtung eingeflößt.
Ein fahler, kalter Morgen graute über Bellerocaille, als Casimir den Landauer vor dem ehemaligen Amtsgebäude des Prévot zum Stehen brachte, auf dessen Frontgiebel jetzt neben dem Wappen derer von Boutefeux die Trikolore wehte. Eine Abteilung des 122. Infanterieregiments, deren Waffen an der Mauer lehnten, erwartete sie bereits.
Anatole holte seine Guillotine aus dem Schuppen, und seine Gehilfen begannen, sie auf dem Place du Trou aufzubauen. Die ersten Schaulustigen tauchten, in ihre Mäntel gehüllt, auf, ihr Atem dampfte in der kalten Luft.
Hippolyte war im Landauer sitzengeblieben, und Casimir hatte ihn in die Rue du Dragon zu Léons Bäckerladen gefahren, der gerade geöffnet wurde. Seine hinkende Schwiegertochter und die Magd bedienten die ersten Kunden.
»Guten Tag, Hortense. Ich komme Saturnin abholen. Guten Tag, Kleine« fügte er an die Magd gewandt zu, die errötete.
Er bemerkte, mit welcher Eile seine Schwiegertochter ihn aus den Augen der Öffentlichkeit zu schaffen und in das Hinterzimmer zu schieben versuchte. Dort frühstückten die Kinder und die Witwe Emilie Bouzouc, die sich bei seinem Anblick bekreuzigte. Hippolyte übersah sie und lächelte Saturnin zu, der seine Tasse mit Milchkaffee vergaß und ihn umarmte.
»Frühstücke ruhig fertig. Wir haben noch Zeit.«
Hortense konnte nicht umhin zu fragen: »Denken Sie wirklich, Schwiegervater, daß das ein geeignetes Schauspiel für ein fünfjähriges Kind ist?«
» Sie vergessen, daß es sich nicht um irgendein Kind handelt, er ist ein Pibrac. Der Achte! Und außerdem ist es das erste und sicherlich auch das letzte Mal, daß er mich im Amt sehen kann.«
Hortense hörte auf, mit dem Kreuz zu spielen, das sie um den Hals trug.
»Sie nehmen an der Hinrichtung teil?«
»Warum machen Sie ein so einfältiges Gesicht? Haben diese Gesellen nicht meinen Sohn, meine Schwiegertochter und meinen Enkel umgebracht? Ganz zu schweigen von Berthe, die vor Kummer gestorben ist.«
»Léon!« rief Hortense zur Backstube hinüber. »Hast du
gehört, was dein Vater gerade gesagt hat? Er wird gleich wieder den Henker spielen!«
Sogleich tauchte Léon mit beunruhigter Miene auf und wischte seine mit Mehl eingestäubten Hände an der Schürze ab: »Das werden Sie doch nicht tun? Das ist unmöglich! Sie haben kein Recht dazu! «
» Kein Recht? Es handelt sich nicht um ein Recht, sondern um eine Pflicht. Und wenn du nicht... nicht Bäcker geworden wärest, würdest du das verstehen! «
»Aber Vater, stellen Sie sich doch den Skandal vor! Die ganze Stadt wird Sie sehen! «
»Das möchte ich doch hoffen! Das wird mich an meine Jugend erinnern! «
Saturnin war dabei, eilig seinen Milchkaffee auszutrinken, als Parfait, sein Cousin, sagte:
»Monsieur, ich möchte auch mitgehen.«
Hortense versetzte ihm eine Ohrfeige.
Der Place du Trou war überfüllt. Die Fenster der umliegenden Fachwerkhäuser waren von Zuschauern belagert, die wegen der strengen Kälte langsam ungeduldig wurden. Den Balkon des Gasthauses »Au Bien Nourri« hatte man an die zahlreichen Journalisten vermietet. Die einzige Unzulänglichkeit war das Fehlen des Schafotts, das es vielen unmöglich machte, etwas anderes als den grauen Himmel zu sehen. Einige waren auf die Gaslaternen geklettert, die den Platz umgaben, und schilderten denen, die unten standen, was vor sich ging.
»Und, was machen sie jetzt?«
» Sie haben die Guillotine fertig aufgebaut, und zwei bringen einen Weidenkorb.«
»Und wie ist der Henker?«
»Er ist ganz bürgerlich gekleidet, mit einem Zylinder auf dem Kopf. Er scheint sich auszukennen. .. Was ich nicht verstehe, ist, was das Kind da bei ihnen zu suchen hat. jetzt ist es so weit, sie gehen sie holen.«
Die Spannung stieg um einige Grad an.
Am Vorabend hatte man die Verurteilten verlegt, und sie hatten die Nacht in den alten Kellern des Amtsgebäudes verbracht, die man während der Revolution in Gefängniszellen umgewandelt hatte. Außer Raflette, der
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