Die Regenbogentruppe (German Edition)
seine Eltern auf der langen Bank vor der Klasse. Da sie nur ein einziges Fahrrad besaßen, war Lintangs Vater bereits mitten in der Nacht zu Fuß aufgebrochen. Im Morgengrauen folgte Lintang mit seiner Mutter auf dem Gepäckträger.
Als alle Eltern sich eingefunden hatten, hielt Pak Harfan eine kurze Ansprache. Darin pries er Lintang als den Stolz der Muhammadiyah. Um seine Mutter zu ehren, die einen so weiten Weg auf sich genommen hatte, bat er sie, nach vorn zu kommen und ein paar Worte zu sagen.
Die war verlegen und zögerte, stand dann aber doch auf und trat nach vorn. Sie hatte als Kind Polio gehabt und brauchte einen Stock zum Gehen. Lintang sprang auf und fasste sie unter.
Lintangs Mutter empfing das Zeugnis ihres Sohnes aus der Hand von Pak Harfan. Ihre Hände zitterten. Sie schlug die erste Seite auf, merkte aber nicht, dass sie sie verkehrt herum hielt. Wie Lintangs Vater, mein Vater und die meisten anderen Eltern konnte auch Lintangs Mutter nicht lesen und schreiben.
Lintangs Mutter bedankte sich bei Bu Mus und Pak Harfan. Als Malaiin vom Land sprach sie einen schwer verständlichen Dialekt. Soweit man ihr folgen konnte, erzählte sie, sie habe heute zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Dorf verlassen, und fügte hinzu, sie könne kaum begreifen, wie heutzutage die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, die Zukunft eines Menschen verändere. Die Zuhörer nickten zustimmend und lächelten.
Lintangs Mutter wusste, dass die Existenz unserer Schule bedroht war. Sie berichtete, dass sie in ihrem Nachtgebet stets darum bitte, Lintang möge doch im Intelligenzwettbewerb der Schulen gewinnen und damit verhindern, dass unsere Schule geschlossen werde. Wir waren gerührt.
Die Fischerfamilie erhoffte sich offensichtlich viel von Lintangs Ausbildung. Sie waren davon überzeugt, dass sich ihre Lage bessern würde, wenn Lintang ein Abschlusszeugnis hätte. Zum Schluss sprach die Mutter von dem Stolz, den sie für ihren ältesten Sohn empfand. Dabei blickte sie zu ihm hinüber. Er senkte den Kopf, ihm rollten die Tränen über die Wangen.
Nach den Worten von Lintangs Mutter bat Pak Harfan ihn selbst nach vorn. Mit feuchten Augen widmete Lintang alle seine Noten seiner Mutter.
*
Bisher war nach Lintang immer ich an der Reihe gewesen, doch diesmal war es anders. Den zweiten Platz hatte Harun erobert.
Bu Mus hatte Harun ein spezielles Zeugnis geschrieben. Teils, weil er seinen Anteil daran hatte, dass unsere Schule vor der Schließung gerettet werden konnte, teils, um ihn aufzuwerten und ihn glücklich zu machen. Auch die Noten in diesem Zeugnis waren außergewöhnlich.
Harun fragte: »Frau Lehrerin, welches Fach ist das wichtigste von allen, die im Zeugnis stehen?«
»Ethik«, lautete die Antwort von Bu Mus, indem sie auf die unterste Zeile wies.
Harun nickte. Dann bat er Bu Mus darum, ihm dieselben Noten zu geben wie Lintang und Trapani. Im Fach Ethik dagegen bestand Harun darauf, eine Drei zu bekommen.
»Eine Drei ist ja viel zu niedrig, mein Junge. Du hast so gute Manieren, ich gebe dir eine Acht.«
Harun erstarrte.
»Eine Drei wäre zu schade. Du hast ein Anrecht auf die Note Acht. Das ist die höchste Note, die ich je in diesem Fach vergeben habe. Du bekommst die Höchstnote in dem wichtigsten Fach überhaupt. Ist das nicht großartig?«
Bu Mus hatte recht. Wir waren alle einverstanden. Haruns Benehmen rechtfertigte die hohe Note Acht. Es war allerdings eine Ironie, dass wir, die wir uns für ganz normal hielten, bis jetzt nie eine Acht in Ethik erreicht hatten.
Bu Mus versuchte es noch ein paarmal, aber Harun wollte nicht nachgeben. Sie gab schließlich auf, als Harun entwaffnend sagte: »Gott liebt die Drei, Ibunda Guru .«
Also wurde in Haruns Zeugnis eine Drei eingetragen. Damit sank natürlich sein Notendurchschnitt, da aber sonst lauter Zehnen aus Lintangs Zeugnis und hohe Noten aus dem seines Idols Trapani darin standen, blieb er auf Platz zwei.
Bu Mus hatte eine weise Entscheidung getroffen. Haruns Mutter war so glücklich, als hätte ihr Sohn gerade glanzvoll die Schule abgeschlossen. Er selbst hielt sein Zeugnis für alle sichtbar hoch und strahlte.
*
Gegen Mittag war die Zeugnisfeier zu Ende. Ich setzte mich hinter meinen Vater aufs Fahrrad und wir fuhren los. Aber mein Blick hing noch an Lintang und seinen Eltern, die gerade ebenfalls aufbrachen.
Lintang schob sein Fahrrad, den Lenker fest gepackt, auf der linken Schulter den Stock seiner Mutter. Sie selbst saß hinten auf dem
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