Die reinen Herzens sind
Sie war bei dem Baby. Ich hatte sie gebeten, nicht zu gehen, ohne sich von mir verabschiedet zu haben. Wenn sie allein zum Parkplatz gegangen ist, dreh ich ihr den Hals um. Man denkt immer, irgendwann bräuchte man sich keine Sorgen wegen der Kinder mehr zu machen …«
»Die Zeit kommt nie«, stimmte Hendricks zu.
»Ich muß wissen, wo sie ist. Geht das?«
»Natürlich. Sehen Sie nach ihr. Mein Zimmer ist 678 B. Ich warte dort auf Sie.«
Decker ließ sich von Hendricks den Weg zur Säuglingsstation J beschreiben. Dabei merkte er, daß er den Arzt zwar akustisch verstand, jedoch den Sinn seiner Worte nicht begriff. Wie in Trance und ohne Orientierung ging er einfach weiter. Angst, Sorgen und Schlaflosigkeit hatten ihm beinahe den Verstand geraubt. Ein Korridor mündete in den anderen und endete im Nirgendwo.
Nach etlichen Fehlversuchen landete er rein zufällig in der richtigen Säuglingsstation. Er starrte durch die Scheibe auf zwei Reihen mit kleinen Betten, in denen nur weiße Bündel mit wirren Haarschöpfen zu sehen waren. Während sein Blick über die winzigen Gesichter schweifte, merkte Decker plötzlich, daß seine kleine Tochter nicht dabei war. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Seine Benommenheit war wie weggewischt.
Er klopfte an die Tür des Säuglingszimmers, wartete jedoch keine Antwort ab. Statt dessen drehte er den Türknauf genau in dem Moment, als eine Frau in OP-Kleidung die Tür von der anderen Seite öffnete. Sie war mittleren Alters, klein und zierlich, mit einem schmalen, spitzen Gesicht. Sie trug eine Haube auf dem Haar. Auf ihrem Namensschild stand: DARLENE JAMISON.
»Ich bin Peter Decker. Ich wollte nur wissen, wo meine kleine Tochter ist. Mein Baby … und die andere auch. Meine beiden Töchter. Haben Sie zufällig …«
»Sie sind Cindys Vater. Das sieht man am Haar. Keine Sorge. Es geht ihr gut. Sie ist hinten bei dem Baby. Beide schlafen.« Darlene schüttelte lächelnd den Kopf. »Kommen Sie rein. Wenn Sie Ihr dynamisches Duo sehen wollen, müssen Sie sterile Kleidung an- und die Schuhe ausziehen.«
Decker betrat den Warteraum der Säuglingsstation. Das grelle Licht blendete seine Augen. Babygebrüll hallte schmerzhaft in seinen Ohren wider. Sein Blick schweifte zu den Bettchen. Die kleine Jackson schien den meisten Krach zu machen. Sie hatte den Mund weit geöffnet und schrie wie am Spieß. Sie lag zwischen der vom Schreien krebsroten winzigen Rodriguez und dem kleinen Yamata, der über allem erhaben schien. Seine großen Augen starrten zur Decke, als wolle er sagen: »Mann, sind die noch dicht, oder was?«
Decker mußte unwillkürlich lächeln. Eine breite gelbe Linie trennte jenen Teil vom Säuglingszimmer ab, in dem er sich aufhalten durfte. Hinter der Linie befand sich ein gläserner Korridor, von dem Türen zu den einzelnen Zimmern führten. Soweit Decker das beurteilen konnte, war Darlene die einzige, die auf die Schäfchen aufpaßte.
»Alles in Ordnung mit meinen Töchtern?« fragte Decker.
»Bestens.« Darlene lachte leise. »Ihre ältere Tochter ist eine Löwin. Sie ist ganz vernarrt in das Baby. Wenn sich die Dinge erst beruhigt haben, sollten Sie sie daran erinnern, daß sie die Schwester und nicht die Mutter ist.«
Decker fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
»Das wollten Sie nicht unbedingt hören, was?« Darlene tätschelte ihm die Schulter. »Wie geht es Ihrer Frau?«
»Sie ist völlig erschöpft. Ihr Arzt wartet auf mich. Soll ich jetzt mit Cindy reden?«
»Um Himmelswillen, nein. Cindy ist für mich kein Problem. Sie ist prima. Ich sehe das locker … als alleinerziehende Mutter von drei Kindern … seit fünf Jahren auf Nachtschicht. Da lernt man, über einiges hinwegzusehen und zu lächeln, wenn man überleben will. Ich bin mein eigener Herr auf der Station. Um ein Uhr morgens steckt hier keiner seine neugierige Nase rein. Marie ist diejenige, die den ganzen Druck abkriegt.«
»Hatten Marie und Cindy Streit?«
»Streit? Das ist hier eine Frage der Kompetenz. Marie ist eine Institution. Ein Machtfaktor. Und dann kommt ein junges Mädchen wie Cindy … voller Begeisterung und Tatendrang und bringt alles durcheinander. Das ist Marie nicht gewöhnt.«
»Ich rede mit ihr.«
»Das müssen Sie nicht. Nicht jetzt. Detective …« Darlene hielt inne. »Ist das die richtige Anrede?«
Eigentlich war es Detective Sergeant, aber Decker nickte nur.
»Ich mag Cindy. Aber Marie ist der Boß. Alle müssen sich nach ihr richten.«
»Verstehe. Ich rede
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