Die reinen Herzens sind
die Flanellwindel auf, und der kühle Luftzug löste bei dem Baby erneut hysterisches Schreien aus. Die Schwester trug das nackte Kind hastig zu den Waagen.
»Das dauert nur eine Minute, Herzchen«, redete Darlene beruhigend auf die Kleine ein, während sie die Gewichte einstellte. Das Mädchen wog noch immer knapp unter zwei Kilo. Es mußte noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, bis es das Gewicht erreicht hatte, mit dem man es nach Hause schicken konnte.
»Hör auf mit dem Gebrüll! Der härteste Teil kommt erst noch.«
Mit energischem Griff hob Darlene den Winzling aus der Waage. Sie legte die Kleine wieder auf den Tisch und wickelte sie in die Decke. Das laute Schreien wurde zu leisem Gejammer. Auf dem Tisch lagen ein Tablett mit Instrumenten und ein Stapel Patientenkarten. Eine Hand auf dem Bauch des Babys, blätterte Darlene den Stapel durch, bis sie die Karte der kleinen Rodriguez gefunden hatte. Sie suchte darauf nach zusätzlichen Anordnungen des Kinderarztes. Da sie nichts fand, notierte sie Datum und letztes Gewicht.
Mittlerweile war das Kind hellwach. Schwarze Augen versuchten alles in der Umgebung zu erfassen, zierliche Beinchen strampelten unter der Decke. Darlene kitzelte sie am Kinn und nahm dann vorsichtig einen winzigen Fuß aus den Falten der Decke.
Winziges Füßchen … so klein und weich wie ein Frauenfinger. Kleine, rosarote Zehen.
Darlene warf einen hastigen Blick über die Schulter. Ihre Schultermuskeln verkrampften sich, als sie die Hand nach dem Instrumententablett ausstreckte. Beim ersten war man immer verkrampft. Sie hatte den Fuß fest im Griff, hielt die Luft an, als sie die spitze Nadel in die Ferse der Kleinen stach.
Decker wachte von seinem eigenen Schnarchen auf. Er hörte sich schnarchen und grunzen, dann schüttelte er den Kopf in dem schwachen Versuch, seine Benommenheit loszuwerden. Seine Knochen schmerzten, seine Muskeln waren steif und verkrampft. Mühsam öffnete er die Augen. Grelles Licht attackierte die Netzhaut. Er brauchte einen Moment, um seine Umgebung wahrzunehmen. Dann bemerkte er erschreckt, daß Rinas Blick auf ihm ruhte. Hastig setzte er sich auf, schwang die steifen Beine über den Rand der Liege. Er nahm ihre Hand und küßte sie.
»Morgen, Liebes.« Er sah zur Wanduhr. Es war zehn vor sechs morgens. Er beugte sich über sie und küßte ihre Wange. Sie war heiß und trocken. »Wie fühlst du dich?«
Rinas Lider flatterten, aber sie hielt die Augen offen. »Wie geht es … unserem Baby?«
»Prächtig!« Decker versuchte überschwenglich zu klingen. »Sie ist bezaubernd. Ganz wie du.«
»Erzähl mir mehr.«
»Also …« Decker räusperte sich. »Sie ist groß und robust. Schön und sehr wach. Entschieden das beste Baby im ganzen Krankenhaus.«
Rinas Lippen verzogen sich zu einem erschöpften Lächeln. »Ich möchte sie in meinen Armen halten.« Ihre Augen wurden feucht. »Aber das darf ich nicht, oder?«
»Natürlich darfst du sie bei dir haben. Du kannst sie stundenlang in deinen Armen halten. Aber zuerst mußt du dich erholen.«
»Von der Operation«, flüsterte Rina.
»Ja, von der Operation«, wiederholte Decker. »Schlaf wieder, Liebling. Das ist jetzt das beste.«
Rina wandte den Kopf ab. Dann sah sie ihn wieder an. »Es ist …« Sie schluckte. »Es stimmt was nicht, Peter.«
»Ich rufe die Schwester …«
»Nein«, wehrte Rina heiser ab. »Das meine ich nicht.«
Decker schwirrte der Schädel. »Der Arzt sagt, daß du bald völlig wiederhergestellt bist, Rina. Aber du brauchst Ruhe.
Du mußt wieder zu Kräften kommen. Das ist alles, was zählt. Also mach die Augen zu und schlaf weiter.«
Rina versuchte tief Luft zu holen. Ihr Gesicht verzerrte sich bei der Anstrengung. »Ich blute nicht normal. Nicht wie bei den anderen …« Sie schluchzte. »Nicht mal wie nach den Fehlgeburten. Das ist nicht normal.«
Decker unterdrückte aufsteigende Übelkeit. »Rina, du bist so müde. Schlaf wieder, Liebes.« Seine Stimme hallte seltsam hohl in seinen Ohren wider. »Ich bin da, wenn du aufwachst.«
»Dein Gesicht …«Ihre Stimme war rauh wie ein Reibeisen. »Warum siehst du mich nicht an? Sag mir die Wahrheit!«
Decker brachte kein Wort heraus. Angst und Erschöpfung lähmten ihn.
»Was ist mit mir los, Peter? Was stimmt nicht?«
»Es ist alles in Ordnung, Liebes.«
Decker bereute die Lüge sofort. Er mußte ihr die Wahrheit sagen. Er durfte sie nicht in falschen Hoffnungen wiegen, nur um sie später noch mehr zu deprimieren. Sie würde
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