Die reinen Herzens sind
Khakihose. Ihre nackten Füße steckten in bequemen Slippern. Um den Hals hatte sie eine Kamera gehängt, und sie trug einen Sonnenhut.
Sie zwickte ihn in die Backe. »Mir geht’s großartig. Sie sehen auch nicht gerade schlecht aus, junger Mann. Nur Ihre Nase glüht wie eine rote Verkehrsampel.«
Decker lachte.
»Wie ich sehe, tragen Sie einen Ring am Finger.«
»Sie auch«, erwiderte Decker.
»Nicht zu vergleichen. Meiner ist viel schöner.«
»Der Stein ist beeindruckend groß.«
»Er ist ein Verschwender, Pete. Wenn er keine Autorennen fährt, werkelt er in den Weinbergen der Familie in Napa rum.«
Decker betrachtete den Stein. »Scheint ihm ziemlich gut zu gehen.«
»Die Familie ist stinkreich. Vergangene Weihnachten habe ich sie kennengelernt. Ziemlich förmliche Geschichte mit massenhaft Verwandtschaft, die extra eingeflogen worden war. Den Tisch hätten Sie sehen sollen. Kann bei der Königin von England nicht eindrucksvoller gedeckt gewesen sein. Ich hatte tierische Angst, die falsche Gabel zu erwischen. An dem Wochenende habe ich zehn Pfund abgenommen.«
Decker grinste.
»Und Sie haben sich also in eine Ehe gestürzt, was?«
»Schätze schon.«
»Sie schätzen?«
Decker lachte. »Ja, ich habe vor über einem Jahr geheiratet.«
Annie betrachtete ihn prüfend. »Ich vermisse die Begeisterung.«
»Das täuscht. Aber ich habe verdammt anstrengende Tage hinter mir.« Decker rieb sich die brennende Nase. »Meine Frau hat gerade ein Baby gekriegt.«
»He! Das ist ja wunderbar!« Annie hielt kurz inne. »Oder etwa nicht?«
»Doch, es ist wunderbar.« Decker starrte zum Himmel hinauf. »Wie detailliert ist Detective Hollander gewesen?«
»Er sprach davon, daß das Opfer eine verschwundene Krankenschwester sein könnte.«
»Von einem Baby hat er nichts gesagt?«
Annie zog die Augenbrauen hoch. »Geht es um die Krankenschwester aus den Fernsehnachrichten? Die, die beschuldigt wird, einen Säugling entführt zu haben?«
»Ja.«
»Großer Gott! Und Sie glauben, daß vielleicht ein Baby im Autowrack liegt?« Annie wurde bleich. »Es ist doch nicht Ihr …«
»Nein, nein«, wehrte Decker ab. »Mein Kind ist bei der Mutter zu Hause und in Sicherheit. Aber es wurde in dem Krankenhaus geboren, aus dem das Baby entführt wurde. Und die verschwundene Krankenschwester ist dieselbe, die auch für meine neugeborene kleine Tochter zuständig war.«
»Schöne Bescherung! Sie müssen ja mit den Nerven fix und fertig sein.«
»Ist schon etwas beunruhigend, ja.«
»Immer noch der alte unterkühlte Cop, Pete?«
»Ich bleibe Ihretwegen ruhig, Annie.«
»Der starke Mann an meiner Seite?«
Decker schüttelte den Kopf. »Es steht Ihnen einiges bevor, Annie. Sie müssen sich nicht nur das Gebiß der Leiche ansehen, Sie haben auch noch die beneidenswerte Aufgabe, in der Asche nach Skelettresten eines Babys zu suchen.«
Annie warf ihm einen gequälten Blick zu. »Im Studium bereiten sie einen nie auf so was vor.«
»Vielleicht ist Ihr verschwenderischer Verlobter der gerechte Ausgleich dafür.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Annie seufzte. »Haben Sie was Interessantes für mich? Irgendeinen Hinweis, der hilfreich sein könnte?«
»Eigentlich nicht. Aber meine Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.«
Annie ging am Rand des gelben Plastikbandes entlang. Sie blieb stehen, bückte sich und starrte auf eine Einbuchtung im Gebüsch. »Wenn ich schon mal hier bin, möchte ich mir wenigstens einen groben Eindruck davon verschaffen, was passiert ist.«
»Verstehe ich.« Decker hörte einen zweiten Wagen näherkommen. Es war das Auto des Sheriffs. Es hielt auf der Straße an. Decker wies den Deputy, eine junge Frau namens Picks, an, sich hinter den Streifenwagen zu stellen, sobald Dr. Hennon und er mit dem Jeep abgefahren waren.
Decker wandte sich an Annie. »Machen wir uns auf den Weg, Frau Doktor.«
Unten, dort wo einst eine blühende Schlucht gewesen war, hatte das Feuer nur verbrannte Erde und höllische Hitze hinterlassen. Bei jedem Windstoß wirbelten Rauch und Aschepartikel durch die Luft und hüllten die ganze Umgebung in einen grauschwarzen Schleier. Der Ruß brannte in Deckers Kehle und Augen. Soweit der Blick reichte, schien alles auf die Kulisse eines grobkörnigen Schwarzweißfilms reduziert.
»Wie halten Schornsteinfeger das bloß aus?« bemerkte Annie. »Und ich mußte ausgerechnet eine weiße Bluse anziehen. Wo soll ich anfangen?«
»Mit der Leiche«, antwortete Decker
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