Die Reise-Bibel
wieder auf seinen Platz
begeben. Er schüttelt seinen Kopf ganz leicht, es könnte aber auch bereits ein substanzieller Tremor sein. Jirzy fährt los,
blickt ängstlich in den Rückspiegel, hat auch sofort Augenkontakt mit Helga, schafft es aber trotzdem noch, gleichzeitig den
Taxameter anzustellen.
Helga kommentiert das mit einem empörten Schnauben.
»Muss ich, ist Vorschrift!«, sagt Jirzy. »Leider!« Man glaubt ihm das. Heiner tätschelt ihn kurz am Knie.
Vier Minuten später steht das Taxi vor Terminal 2. Der Taxameter zeigt 4,80 Euro an.
»Siebendreißig«, sagt Jirzy.
Helga ist kurz davor, ihren Mietfahrer zu schlagen.
»Gepäck. Aber Rabatt gebe ich, 50 Cent!«
Jirzys Stimme klingt neutral.
An Helgas Hals pocht eine Ader besorgniserregend. Sie reicht einen Zehneuroschein nach vorn, ohne Jirzy anzusehen. Jirzy entweicht
ein Geräusch, das sich anhört wie der Schrei einer kleinen Katze.
»Kein Geld für Wechsel«, sagt er bedauernd.
Heiner lacht trocken auf, lässt diese Gefühlsregung aber gerade noch rechtzeitig in einen Hustenanfall übergehen. Helga schaut
Jirzy mit offenem Mund an, verfärbt sich |69| dabei in Richtung Telekom-Magenta. Einen Moment lang sieht es so aus, als ob sie nun endgültig die Kontrolle über ihr Aggressionspotenzial
verlieren würde.
»Ich hab’s passend!«, sagt plötzlich Natascha Brioche, die offenbar für einen Moment darauf verzichtet hat, sich erneut mit
den Ohrstöpseln zu versiegeln. Sie zieht ihren Geldbeutel aus dem Rucksack, öffnet ihn. Mehrere Scheine, Kleingeld.
»Du hast ja Geld dabei!«, stammelt Helga.
»Ja UND?«, antwortet ihre Tochter.
Jirzy und Helga wechseln einen Blick. Jirzy schürzt kurz die Lippen. Nee, konnte ja auch keiner wissen. Natascha Brioche zählt
acht Euro ab, sagt:
»Stimmt so!«, und zu ihrer Mutter:
»Krieg ich aba zurück, ne.«
Keine Antwort. Helga reißt die Tür auf und treibt ihre Familie zur Eile an.
»Schnell, macht voran, wir sind spät dran!« 6.30 Uhr.
»Wann müssen wir am Gate sein?«, fragt ihre Tochter.
»Vor 20 Minuten!«
»Uijuijui!«, sagt Heiner.
»Schnauze!«, antwortet seine Frau. »Hilf lieber mal.« Sie verteilt das Gepäck auf ihre Sippe, im Eilschritt rennen die Glowaczkis
in die Flughafenhalle. Jirzy schaut ihnen durch die Scheibe nach und beobachtet, wie die Glowaczkis am Serviceautomaten für
Gepäckwagen stoppen und ihre Koffer und Taschen um sich herum gruppieren wie tränkende Kamele ihre Kinder. Heiner muss sich
auf die Zehenspitzen stellen, um die Plastikboje kurz auf einem Check-in-Automaten der Air France abzustellen. Wozu ist dieses
Ding da? denkt Jirzy noch, dann dreht er sich um, lächelt leise und steigt in seinen Corolla. Nette Leute, denkt er, lassen
sich nicht aus der Ruhe bringen.
An der Gepäckwagenstation hat sich inzwischen herausgestellt, |70| dass keiner der Glowaczkis ein Eineurostück zur Hand hat.
»STIMMT SO! Am Arsch!«, mault Helga und haut ihrer Tochter leicht auf den Hinterkopf. Dann nimmt jeder wieder seine Gepäckstücke
auf und setzt sich in Bewegung, der Condor-Schalter befindet sich am anderen Ende der Halle. Die orange Boje auf dem Check-in-Automaten
sieht aus wie etwas, mit dem ein zeitgenössischer Künstler den Arbeitskampf der öffentlichen Müllabfuhr unterstützt. Sehr
auffällig jedenfalls. Die signalfarbene Beach-Fun-Gerätschaft wird von den Glowaczkis allerdings vorerst nicht vermisst. Am
Schalter der Condor steht eine längere Schlange. Es dauert 45 Minuten, bis Helga Glowaczki vier Reisepässe und die Gutscheine für den Flug der Sippe in die Dominikanische Republik auf
den Counter legt. Dann geschehen einige Dinge
beinahe
gleichzeitig, und keiner der Glowaczkis kann sich hinterher zuverlässig daran erinnern, in welcher Reihenfolge genau. Vieles
spricht allerdings dafür, dass es genau so gewesen sein muss. Eins: Nachdem Helga und Kevin Miami alle Gepäckstücke der Familie
auf das Band am Counter gewuchtet haben, bringt Sohn Glowaczki den ersten zusammenhängenden und sehr lauten Satz des Tages
zustande:
»Boah ey, wir haben ja ganz schön Übergepäck!«
Zwei: Bärbel Lärchel vom Bodenpersonal der Condor hat in diesem Moment die Information verarbeitet, wohin die Familie vor
ihr eigentlich reisen will bzw.
wollte
, denn sie sagt in einem Tonfall, der sich zwischen Bedauern und Zurechtweisung nicht entscheiden kann:
»Oh, das tut mir leid, Sie sind zu spät, ihr Flug wurde
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