Die Reise in die Dunkelheit
Chancen, das in weiter Ferne liegende Ziel zu erreichen.
Das Wetter meinte es gut mit dem Stalker: kein nerviger Nieselregen, keine grauen Schneeflocken – nicht einmal der Wind, der normalerweise das Laub durch die Gassen blies, behinderte den schwer bepackten Mann auf seinem Weg entlang der Ruinen des Moskauer Prospekts.
Um die Höhle der Stummel weiträumig zu umgehen, orientierte sich der Söldner nach links, zum Gebäude des ehemaligen Business-Centers »Elektronstandart«. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Wachposten der Wilden hatten ihn offenbar schon an der Kreuzung Moskauer und Lenin-Prospekt bemerkt, als er am Milizhäuschen zugange gewesen war. So hatten sie auch genug Zeit gehabt, ihm einen netten Empfang zu bereiten.
Wie aus dem Nichts tauchten die mit Armbrüsten bewaffneten Wilden auf und kreisten ihn ein . A llerdings machten sie keine Anstalten, ihn anzugreifen. Stattdessen trat Sitting Bull aus einem ausgeschlagenen Schaufenster heraus. Ihren Götzen hatten die Stummel also wieder aufgepäppelt.
Seine lächerliche Montur hatte der junge Stammesführer gegen eine bequeme Weste und eine einfache Hose aus Wolfsfell getauscht. In den Händen hielt er einen ganz gewöhnlichen, ziemlich massiven Speer. Majestätisch stolzierte der junge Mann über den schneeverwehten Asphalt, bis er unmittelbar vor dem Söldner stand. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung schüttelte er sich das lange Haar aus dem Gesicht.
»Einen trüben Himmel wünsche ich dir, Taran. Mögen die Strahlen des Stechenden Auges dich verschonen!«
»Mögest auch du nicht an Krankheiten leiden«, murmelte der Stalker mit einem misstrauischen Seitenblick auf die Kämpfer.
»Du konntest deinen Sohn nicht retten und bist zurückgekehrt, um mich zu töten, wie du es angekündigt hast?« Sitting Bull flüsterte, damit die anderen nicht mithören konnten. »Ich kannte ihn nicht persönlich, aber ich trauere mit dir.«
»Gleb lebt.« Die Stimme des Söldners war fest, obwohl ihn die Sorge um seinen Stiefsohn immer mehr quälte. »Und du wirst auch am Leben bleiben, wenn du mir deine Chingachgooks aus dem Weg räumst.«
Der Stammesführer schmunzelte und gab seinen Kämpfern ein Zeichen. Die ließen die Armbrüste sinken und traten zurück.
»Und wohin führt dich dieser Weg, wenn ich fragen darf?«
»In die Sümpfe.«
Der Stummel wunderte sich zwar, ließ sich jedoch nichts anmerken. Nachdenklich schaute er dem von dannen ziehenden Stalker hinterher.
»Warte, Taran!«
Sitting Bull stieß einen schrillen Pfiff aus und spähte umher. Plötzlich tauchte zwischen den Betontrümmern eine riesige Bestie auf und sprang von einer Schneewehe herab. Der Stammesführer ging geradewegs auf sie zu. Der Söldner griff reflexartig zum Maschinengewehr. Der Mutant benahm sich jedoch überraschend friedlich und schmiegte sich wie ein Kuscheltier an Sitting Bull. Der zeigte seinerseits keinerlei Angst und zog das Tier an seinen zottigen Ohren.
»Das ist Sugg«, sagte der Stummel mit einem Gesichtsausdruck, als würde der Name alles erklären. »Wir füttern ihn mit umgekommenen Stammesgenossen. Er ist zwar ein Raubtier, frisst aber auch Aas.«
»Ich hab die Bestie schon mal gesehen«, murmelte Taran mit einem argwöhnischen Blick auf das mit langen Reißzähnen bestückte Maul. »Letztens hatte sie mich als Mittagessen ausgeguckt.«
»Sugg ist ein Männchen. Und absolut ungefährlich für Leute, die er kennt.« Der Stammesführer winkte den Söldner herbei. »Komm her. Keine Angst, er tut dir nichts.«
Der Stalker überwand seine instinktive Abneigung und trat näher. Der Mutant schnüffelte lautstark und prägte sich den Geruch des fremden Zweibeiners ein. Dann stupste er mit seiner langen Schnauze gegen die Brust des Söldners.
»Er hat dich begrüßt. Los, gib ihm auch einen Klaps.«
»Wozu soll denn das gut sein?«, zierte sich Taran, streckte aber trotzdem die Hand aus und tätschelte das dichte Fell des Ungetüms.
»Sugg wird dich bis an den Rand seiner Jagdgründe begleiten. Solange er bei dir ist, bist vor allen anderen Bestien sicher.«
Noch einmal musterte der Stalker das beeindruckende Tier. In der Tat, in Begleitung eines solchen Monsters konnte der Trip durch die Sümpfe zum reinsten Spaziergang werden.
»Danke, Sitting Bull. Und … auch dir einen trüben Himmel.«
Der Stummel bleckte seine krummen Zähne zu einem breiten Grinsen und führte seine Leute nach Hause – zur Gedenkstätte in der Mitte des Platzes.
Flatsch …
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