Die Reise in die Dunkelheit
Dym.
Er verzichtete auf weitere Attacken und trottete wieder zu seinem Barhocker zurück. Seine Wut war verflogen, und er dachte wieder klarer.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte sich der Stalker hoch. Eine gefühlte Ewigkeit starrte er Dyms muskulösen Stiernacken an. Er hatte immer noch die Hoffnung, dass der Mutant zur Vernunft kommen würde, nachdem er seinen Frust abreagiert hatte. Doch er hoffte vergeblich.
Taran ging zum Ausgang. Im letzten Moment blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.
»Ich brauche deine Hilfe. Gleb ist verschwunden«, sagte er ruhig und sachlich.
Auf diese schlimme Nachricht hätte Dym eigentlich reagieren müssen. Er hätte aufspringen müssen und sich erkundigen, was denn passiert sei. Doch der Koloss schwieg. Die Sekunden verrannen. Nichts passierte. Der Stalker hätte von seinem Freund alles Mögliche erwartet, aber nicht diese Gleichgültigkeit. Er drehte sich um und zog enttäuscht ab. Es blieb ihm nichts anders übrig, als allein in die Höhle der Stummel vorzudringen.
Dym starrte gedankenlos auf einen Punkt und versuchte, seine strapazierten Nerven zu beruhigen. Die Abschiedsworte des Stalkers hatte er akustisch nicht verstanden – die Nachwirkungen eines Traumas, das er am Petersburger Damm erlitten hatte . A ber es war ja auch egal. Sollte Taran sehen, wie er mit seinen Problemen fertig wurde. Er war ja schließlich kein Kind mehr.
An Gleb dachte Dym in diesem Moment überhaupt nicht …
4
DIE STUMMEL
Die Stalker waren ein ziemlich abergläubisches Völkchen. Und wer wollte es ihnen verdenken? Es ist kein Geheimnis, dass das Leben in ständiger Gefahr einen Menschen verändert: sein Verhalten, seine Gewohnheiten, ja selbst seine Philosophie. Je öfter sich jemand lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt sieht, desto stärker wird sein Überlebensdrang. Die Stalker machten da keine Ausnahme. Jeder dritte befolgte einen individuellen Verhaltenskodex und zelebrierte mitunter etwas spleenig wirkende Rituale, um die Glücksgöttin gewogen zu stimmen. Jeder zweite trug irgendeinen Talisman mit sich herum. Und selbstverständlich hatte jeder Stalker seine eigene Strategie für das Überleben an der Oberfläche.
Taran hatte mit Aberglauben nichts am Hut, denn er war fest davon überzeugt, dass man das Glück nicht erzwingen kann. Er verließ sich lieber auf seine Stärke und seinen Instinkt.
Allerdings hatte auch er sich im Laufe der Jahre ein unverbrüchliches Ritual angewöhnt. Na gut, »Ritual« ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es handelte sich eher um eine obligatorische Prozedur vor jedem Streifzug an der Oberfläche.
Am Ausgang aus der halb eingestürzten Unterführung an der Moskowskaja blieb der Stalker stehen, wie er es schon Hunderte Male vorher getan hatte. Einige Minuten lang verharrte er, schaute sich um und sog die Eindrücke in sich auf: jeden Windhauch, jedes Rascheln, den ganzen Rhythmus des oberirdischen Lebens. So wie Perlenfischer sich zuerst an die Beschaffenheit des Wassers gewöhnen, bevor sie in die Tiefe tauchen. Besser gesagt: gewöhnten. Der Stalker erinnerte sich plötzlich an Szenen aus einer Fernsehdokumentation über den Ozean und seine Schätze, die er vor etlichen Jahren gesehen hatte. Das musste in einem anderen Leben gewesen sein. Ewigkeiten waren vergangen seit jener Zeit, als die Meeresküsten noch als malerisches Urlaubsparadies galten. Inzwischen hatten die radioaktive Strahlung, Meeresungeheuer und sonstige »Attraktionen« der postatomaren Welt Land wie Wasser für den Menschen unbewohnbar gemacht. Ein anderes Ökosystem. Ein fremdes Ökosystem, in dem man sich vorsehen musste.
Nach der Akklimatisierungsprozedur trabte Taran denMoskauer Prospekt entlang . A ls Prospekt konnte man diesen Ort allerdings nur aus Gewohnheit bezeichnen – in Erinnerung an vergangene Zeiten. Mittlerweile glich diese Straße eher einem Canyon, an dessen Flanken sich Berge aus geborstenen Betonplatten und Ziegeln erhoben. Wie verfaulte Zahnstumpen ragten marode Stahlbetongerüste aus den Schutthalden.
Nur ein überdimensionales M, das halb in der Erde steckte, erinnerte noch an das frühere McDonald’s. Vor der Katastrophe hatte Taran stets einen großen Bogen um den amerikanischen Fast-Food-Tempel gemacht und verächtlich die Nase gerümpft. Jetzt hätte er gegen einen Hamburger und eine Portion Pommes absolut nichts einzuwenden gehabt. Bei dem Gedanken lief ihm sogar das Wasser im Mund zusammen.
Ein Stück weiter vorn raschelte
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