Die Reise in die Dunkelheit
etwas. Der Stalker fluchte und verwarf den Gedanken ans Essen. Während einer Expedition durfte man nie die Wachsamkeit verlieren. Selbst bei einer so kurzen wie dieser. Bis zur Ploschtschad Pobedy – dem »Platz des Sieges« – war es nur ein Katzensprung. Vielleicht fünfhundert Meter.
Doch auch auf dieser kurzen Strecke blieb ihm eine unliebsame Begegnung nicht erspart. In einer Seitengasse wühlte irgendein Vieh geschäftig in einem Müllhaufen. Dabei stellte es seine mit dichtem, glänzendem Fell bewachsenen Flanken zur Schau. Moosbüschel und Steine flogen durch die Gegend. Der Mutant war so mit Graben beschäftigt, dass er den Ankömmling zunächst überhaupt nicht bemerkte. Nach einer Weile spürte er doch, dass er beobachtet wurde. Er wandte dem Stalker seine dreckige, mit spitzen Eckzähnen bewehrte Schnauze zu und knurrte.
Taran sah im Verhalten der Bestie keine unmittelbare Bedrohung. Eher eine Warnung: Hau ab, du störst. Das Tier ließ den Stalker nicht aus den Augen, bis er um die nächste Ecke verschwand. Offenbar hatte es schon öfter das zweifelhafte Vergnügen gehabt, diesen seltsamen Zweibeinern mit den länglichen Glotzaugengesichtern zu begegnen.
Langsam kämpfte sich der Stalker zwischen den Schutthalden hindurch und warf dabei immer wieder argwöhnische Blicke in die schwarzen Rachen zerstörter Fenster. Er hatte sein Ziel beinahe erreicht. Seitlich vor ihm ragten bereits die beiden windumtosten Hochhäuser in den Himmel. Die Stummel bezeichneten sie als »Hörner des Teufels« und sahen eine Art Tor zur Unterwelt darin.
Taran musste schmunzeln, als er daran dachte, mit welchem Pathos die Wilden von ihrer Siedlung erzählten. Wobei »erzählen« fast zu viel gesagt ist, da sie nur über einen sehr begrenzen Wortschatz verfügten und sich mehr mit Gesten als mit Sprache verständigten. Dem Stalker war es ein Rätsel, wie es diese heruntergekommenen Gestalten überhaupt hierherverschlagen hatte und warum sie immer noch nicht ausgestorben waren.
In der Metro ließen sich die Stummel nur selten blicken. Meist trieben sie sich an der Oberfläche oder in der Kanalisation herum und suchten nach Dingen, die sie für den Handel mit den Bewohnern des Untergrunds brauchen konnten. Ihre sagenhafte Hässlichkeit hing nicht nur mit der radioaktiven Strahlung zusammen, sondern hatte wohl auch mit Inzucht infolge geringer Populationsstärke zu tun. Gerüchten zufolge gab es jedoch auch verzweifelte Menschen, die das Leben in der Metro nicht mehr ertrugen und sich den Stummeln anschlossen. Die Stummel ihrerseits kauften angeblich Kinder von verarmten Metrobewohnern, um das Aussterben ihres Stammes hinauszuzögern.
Als Behausung hatten sich die Wilden dieGedenkstätte für die Verteidiger Leningrads am Platz des Sieges ausgesucht. Dazu gehörte auch der »Gedenksaal«, ein Museum, das sich unterhalb des Platzes befand. Je näher Taran kam, umso grotesker wurde der Anblick, den das Ensemble bot. Ursprünglich hatte die Gedenkstätte aus einem imposanten Mauerring bestanden, in dessen Mitte sich eine Skulpturengruppe mit ewigem Feuer befand. Mittlerweile glich das Bauwerk eher einer Festung . A uf der Mauer befanden sich in regelmäßigen Abständen improvisierte Wachtürme, und den ganzen Ring umgab ein Sperrzaun aus Stahlstäben, der zusätzlich mit einem Stacheldrahtverhau gesichert war. Die beiden breiten Durchgänge, durch die man früher das Innere betreten hatte, waren mit allem möglichen Schrott verbarrikadiert, etwa mit rostigen Omnibusskeletten und tonnenschweren Lastwagenaufbauten.
Um ihre Trutzburg vor den Angriffen geflügelter Bestien zu schützen, hatten die Stummel über der Gedenkstätte eine Art Kuppel errichtet. Diese bestand aus Dachfragmenten von den umliegenden Häusern und dem allgegenwärtigen Stacheldraht. Weiß der Henker, wo sie den in solchen Mengen aufgetrieben hatten.
Als Behausung taugte die Gedenkstätte jedoch nur dank des unterirdischen Museums, das durchaus groß genug war, um eine kleine Siedlung zu beherbergen. Den in sechs Meter Tiefe errichteten »Gedenksaal« hatte der Stalker zuletzt in seinen Jugendtagen besucht und die Erinnerung daran war so verschwommen, dass sie für seine heutige Mission wenig Nutzen brachte. Im Gedächtnis geblieben war ihm nur das sprachlose Staunen, mit dem er damals die Treppe hinuntergestiegen war, vorbei an dem Bronzefries mit den unzähligen Leuchtern, die aus Geschosshülsen gefertigt waren. Die düstere Erhabenheit des
Weitere Kostenlose Bücher