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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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Hindernis, das Taran von seinem Stiefsohn trennte.
    Der Stalker wandte sich entsetzt ab. Doch was er gerade gesehen hatte, stand immer noch vor seinen inneren Augen. Er erkannte Glebs Gesicht nicht. Es war nämlich nicht mehr da. Die Ratten waren den Totengräbern zuvorgekommen . A uch der übrige Körper war völlig entstellt, an manchen Stellen sogar verbrannt. Die blutigen Fetzen, die ihn bedeckten, konnte er schwerlich als Glebs Kleidung identifizieren.
    Taran zwang sich dazu, die sterblichen Überreste genauer zu untersuchen. Denn solange es keinen eindeutigen Beweis gab, blieb immer noch ein Hauch von Hoffnung.
    Unter der zerrissenen Jacke spürte der Stalker etwas Hartes. Er griff hinein und zog aus der Innentasche einen länglichen, metallischen Gegenstand hervor. Er nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Hand. Es war das Feuerzeug mit dem zweiköpfigen Adler darauf, das er nur zu gut kannte. Glebs Zippo.
    Über den Körper seines Sohnes gebeugt, lies Taran kraftlos die Arme sinken.
    Einer der Totengräber beobachtete ihn teilnahmslos.
    Das Gesicht des Stalkers war zu einer Maske der Ohnmacht erstarrt. Tiefe Furchen zerschnitten seine Stirn. Über seine Wange rann eine einsame Träne. Sie glänzte im flackernden Licht der Fackeln und zog auf seiner verrußten Haut eine helle Bahn.

6
    DIE HEIDEN
    »Tut mir sehr leid.« Baracholschtschiks Hand legte sich auf Tarans Schulter. »Das ist wohl …«
    »Mein Sohn«, sagte der Stalker mit einer Stimme, die nicht die seine war. »Kümmere dich um den Leichnam. Ich komme später zurück und hole die Asche ab.«
    Der Totengräber nickte flüchtig und zog sich in die Dunkelheit zurück.
    Noch lange harrte Taran bei seinem toten Stiefsohn aus und hielt dessen erstarrte Kinderhand umfasst . A ls wollte er sie wärmen und dem erkalteten Körper wenigstens eine Spur von Leben einhauchen.
    Vor seinem inneren Auge liefen Bilder aus der Vergangenheit ab. Gleb auf dem Bahnsteig an der Moskowskaja . Schmutzig und mit löchrigen Klamotten. Damals waren sie sich zum ersten Mal begegnet … Gleb, wie er mit großem Appetit Brei aus einem Blechnapf löffelt. Zufrieden und mit gesunder Gesichtsfarbe … Gleb mit dem Messer in der Hand, im Kampf gegen den jungen Wolf. Wild und entschlossen … Gleb mit der Pistole, wie er sich schützend vor seinen von Krämpfen geschüttelten Lehrmeister stellt … Gleb im Wasser, ängstlich, mit blauen Lippen … Gleb am Strand, glücklich und vergnügt … Gleb … Gleb … Gleb …
    Ein Bild folgte auf das andere. Und aus jedem dieser Bilder schaute ihn der stupsnasige Junge mit seinen lebendigen Augen an, kraftstrotzend und willensstark. So facettenreich. Und so lebensfroh …
    Taran umfasste seinen Kopf mit den Händen und öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Sein breiter Rücken war gebeugt. Der Verstand rebellierte, wollte sich einfach nicht abfinden mit dieser furchtbaren, unerträglichen Realität.
    Langsam richtete sich die massive, zusammengekauerte Gestalt im Schutzanzug wieder auf. Die in der Nähe stehenden Totengräber beobachteten neugierig, wie der kahlköpfige Stalker an den aufgeschlitzten Säcken vorbeiging und plötzlich zornig gegen einen der Toten trat. Der Leichnam eines Banditen rollte auf die Seite. Dabei wurde ein großes, schnörkeliges »H« sichtbar, das auf seinen Oberarm tätowiert war. Dieses Monogramm verbanden die meisten, die es kannten, mit bitteren Erinnerungen . A uch der Stalker. Ihm fiel sofort die von Kummer zermürbte Frau von der Frunsenskaja wieder ein.
    Finde sie und töte sie . A lle. Hörst du, Söldner? Töte sie alle! Töte sie!
    Taran biss sich die Lippe blutig und ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Hätte er dem Flehen der Frau damals nachgegeben, dann wäre vielleicht alles anders gekommen …
    Der Söldner machte sich zum Aufbruch bereit. Er packte seine Kampfmittelweste um und kontrollierte die Magazine für die Kalaschnikow. Er hatte jetzt etwas zu erledigen, das keinen Aufschub duldete. Etwas, das wichtiger war als der Auftrag des Metrorats. Die Abrechnung mit den Heiden.
    Der über eine Werkbank gebeugte alte Mann im öligen Blaumann feilte geschäftig an einem eingespannten Zahnrad und pfiff wie aufgedreht ein Liedchen vor sich hin. Die einfache Jazzmelodie klang so munter und lebensfroh, dass der Wendetunnel weniger gottverlassen und öde wirkte, als er in Wirklichkeit war. Ein einziges Lämpchen, das von einer alten, oxidierten Batterie gespeist wurde, beleuchtete den mit

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