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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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hieß das gleich – tektonischen Riss. Ein Geologe von hier hat mir mal erklärt, dass sich Petersburg an einer Stelle befindet, wo der Baltische Schild und die Russische Platte aufeinandertreffen. Und am Tag der Katastrophe ist es angeblich aufgrund der vielen Kernexplosionen zu irgendwelchen Verschiebungen gekommen. Um ehrlich zu sein, ich blicke da nicht ganz durch. Es heißt jedenfalls, dass man anfangs noch zur Puschkinskaja durchkam. Die Tunnelsegmente hatten sich zwar abgesenkt, aber ein Durchgang war geblieben. Die Älteren an der Station haben erzählt, dass an dem Tag, als der Tunnel endgültig abstürzte, ein mit Munition beladener Tross genau an dieser Stelle unterwegs war. Da muss ein ganzes Vermögen verschüttgegangen sein. Tja …«
    »Geht’s da weit runter?«
    Ringsum herrschte undurchdringliche Finsternis. Nur eine Fackel, die an der Abbruchkante der Röhre eingemauert war, beleuchtete den Schlund des Tunnels hinter ihnen sowie ein Fragment der lehmigen, vertikalen Wand.
    »Keine Ahnung. Ganz unten war noch niemand. Die Höhlenforscher haben sogar schon ein Spezialseil bei den Masuten bestellt. Die sind alle ganz versessen darauf, den Grund der Spalte zu erkunden. Wir machen uns deswegen keinen Kopf. Uns interessiert nur das Runterspringen. Die Wand ist zum Glück absolut senkrecht. Die Gefahr, dass man dagegenknallt, ist gering.«
    Der Junge betrachtete die auf dem Steg liegende Ausrüstung: Seile und Karabinerhaken, eine Seilwinde auf einem Dreibein. Psycho schien die Wahrheit zu sagen. Es gab also tatsächlich Spinner, die freiwillig ihr Leben riskierten, nur um sich einen Kick zu holen. Gleb empfand ein solches Verhalten als widernatürlich. Wenn man schon unbedingt den Nervenkitzel brauchte, dann konnte man doch genauso gut an die Oberfläche gehen, um irgendwas Nützliches zu beschaffen.
    »Das Adrenalin, Junge …« Der Musiker schien Gedanken lesen zu können. »Das ist viel cooler als Drogen. Hier sind alle geil aufs Springen. Wenn du ein bisschen wartest, kannst du selbst sehen, was es mit dem Rope Jumping auf sich hat. Man kann das nicht beschreiben. Totale Finsternis … Freier Fall … Und du bist völlig allein . A uge in Auge mit dem Abgrund.«
    Psycho kniff die Augen zusammen und breitete die Arme aus. So verharrte er für einige Sekunden und genoss den imaginären Flug. Dann öffnete er die Augen und sah Gleb an – abwesend und traurig.
    »Aber nach ein paar Sekunden fällst du ins Seil … Dann spürst du wieder die Last deines vergänglichen Körpers. Hängst über dem Abgrund des Nichts. Und dann wirst du langsam wieder raufgezogen, zurück in der Welt der Lebenden …«
    »Du sagst das so, als würdest du am liebsten unten bleiben«, erwiderte Gleb mit einem bangen Blick über das Geländer.
    Der Gitarrenspieler machte ein Gesicht, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst, und schaute den Jungen überrascht an. Er hatte nicht erwartet, dass jener den Finger so beiläufig und zielsicher in die Wunde legen und zum Kern seiner krankhaften Sucht nach dem Abgrund vordringen würde.
    »Vielleicht hast du recht. Wozu zurückkehren? Um in einem Loch zu hausen? Um ewig am Lagerfeuer rumzuhocken? Um von den Almosen der Touristen aus den reichen Siedlungen zu leben? Es hängt mir zum Hals raus. Nach oben kann man nicht – dort ist alles verstrahlt. Der einzige Ort, den wir noch nicht versaut haben, liegt dort unten. In archaischer Finsternis. Vielleicht zieht er uns deshalb so magisch an. Denn von dort kommen wir. Und dahin kehren wir auch wieder zurück. Finsternis ringsum und Finsternis in uns …«
    Die Laune des jungen Mannes sank ohne erkennbaren Grund in den Keller. Doch als er bemerkte, wie teilnahmsvoll Gleb ihn anschaute, schüttelte er die Melancholie wieder ab. In seinen Augen funkelte abermals der Schalk.
    »Vergiss es. Ist nur grade was mit mir durchgegangen …«, sagte er verlegen. »Gib mir lieber dieses Ding da.«
    Der Junge hob eine schwere Armbrust vom Boden auf und reichte sie Psycho. Der spannte sie gekonnt, zündete die Spitze des Bolzens an und schoss. Ein Feuerschweif fräste sich durch die Dunkelheit. Mit einem dumpfen »Tschak« bohrte sich das Geschoss in die gegenüberliegende Wand und beleuchtete dort einen kleinen Ausschnitt. Die andere Seite war gut zehn Meter entfernt. Jetzt konnte sich der Junge ungefähr vorstellen, was für eine gewaltige Naturkatastrophe sich hier ereignet haben musste.
    »Das heißt, von hier aus …«
    »… kommt man nicht zur

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