Die Reise in die Dunkelheit
In einiger Entfernung hingen die Händler herum und bewachten ihre Waren. Sie waren verständlicherweise wenig begeistert über die Verzögerung. Die Nervösesten von ihnen verschwanden abwechselnd in der örtlichen Kneipe, um sich die Wartezeit bei einem Gläschen zu vertreiben.
Nach zwei Stunden stand der Zug immer noch leblos auf dem Gleis, und der Trossführer schien sich zielsicher einem Tobsuchtsanfall zu nähern. Nachdem Gleb seine fruchtlosen Bemühungen eine Zeit lang beobachtet hatte, wurde es ihm zu bunt. Er nahm all seinen Mut zusammen und trat zur Draisine.
»Geben Sie mal her.«
Kostroma wollte schon protestieren, als der Junge ihm den Gabelschlüssel aus der Hand nahm, doch dann überlegte er es sich anders, winkte frustriert ab und setzte sich auf die Bahnsteigkante. Gleb krempelte die Ärmel hoch und verschwand unter der Motorabdeckung. Einige Minuten später hörte man etwas scheppern, und aus den Innereien der Draisine fiel ein ölverschmiertes Teil aufs Gleis.
»He! Was hast du da abgemacht, Bengel?«, rief der Trossführer aufgebracht.
»Keine Sorge. Ohne dieses Ding wird er besser laufen«, erwiderte Gleb und steckte sein schmutziges, aber zufriedenes Gesicht heraus. »Halten Sie lieber mal hier … Ich kenne mich zwar eigentlich besser mit Dieselgeneratoren aus, aber die Maschine da ist auch nicht komplizierter.«
Stepan schöpfte neuen Mut und ging dem jugendlichen Mechanikertalent zur Hand. Zu zweit kam die Arbeit nun richtig in Schwung . A ls die Händler bemerkten, dass sich etwas tat, eilten sie neugierig herbei, deuteten mit fachkundigen Mienen auf einzelne Bauteile und kommentierten geschäftig, wo dringend noch etwas anzuziehen beziehungsweise zu lockern sei. Kostroma nahm dies zum Anlass, den schlaumeiernden Herrschaften in bilderreicher Sprache und unter Berücksichtigung intimer Details sämtlicher außerehelicher Beziehungen bis zum fünften Glied mitzuteilen, wohin sie sich ihre wohlfeilen Ratschläge stecken könnten.
Trotz Glebs Hilfestellung zog sich die Reparatur den ganzen Vormittag hin. Nebenbei erzählte der Trossführer dem Jungen ein paar Geschichten aus seinem Leben: über seinen schwierigen Job, über die skrupellosen Masuten mit ihren asozialen Transitgebühren und über seine stumme Partnerin, die er an einer Randstation aufgegabelt hatte.
Wie sich herausstellte, hatte die Frau ein schlimmes Schicksal erlitten. Nach einer Totgeburt hatte sie zu sprechen aufgehört. Das Kind war nicht nur tot, sondern auch fürchterlich entstellt – ohne Gesicht und Ohren – auf die Welt gekommen. Wäre Stepan nicht gewesen, hätte sie vor Kummer gewiss den Verstand verloren. Er hatte sich um sie gekümmert und sie wieder aufgepäppelt. So waren sie schließlich auch zusammengekommen.
»Fima ist gute Hausfrau«, erklärte Kostroma mit einem Seitenblick auf seine Begleiterin. »Dass sie nicht sprechen mag, ist eher Vorteil . A ndere Weiber machen ganzen Tag Vorwürfe, wenn sauer sind, meine verdreht nur Augen, meckert bisschen und beruhigt wieder.«
Gleb lugte um die Ecke. Die Frau im Kopftuch saß neben der Wand, starrte abwesend auf einen Punkt und pendelte mit dem Oberkörper hin und her. Für die völlig verlorene, todunglückliche Fima konnte man nur tiefstes Mitleid empfinden. Man hatte unwillkürlich das Bedürfnis, ihr irgendwie zu helfen . A llerdings gab es wohl kaum etwas, das die Ärmste von ihrem tief sitzenden Kummer hätte erlösen können.
Während Gleb und Kostroma entspannt plauderten, traten die Reparaturarbeiten in die abschließende Phase . A ls der reanimierte Motor endlich widerwillig ansprang, ging ein Seufzer der Erleichterung durch die Wartenden am Bahnsteig.
Der Junge wischte sich die Hände an einem Lumpen ab und setzte sich zu Aurora, die es sich bereits auf der hinteren Draisine bequem gemacht hatte . A ls Sitzgelegenheit dienten Säcke mit getrockneten Pilzen. Zuletzt stiegen zwei völlig betrunkene Händler zu, die die ganze Zeit in der Bar zugebracht hatten. Kaum waren sie zu ihren Plätzen getorkelt, ließen sie auch schon die Köpfe baumeln.
Langsam rollte der Zug in den Tunnel – mitten hinein in die schaurige Umarmung archaischer Finsternis. Zwar beleuchtete der Scheinwerfer der vorderen Draisine einen kurzen Gleisabschnitt, doch wenn man am Ende des Zuges saß, bekam man davon kaum etwas mit und hatte eine beängstigende schwarze Hölle im Rücken.
Obwohl Gleb immer wieder das Bedürfnis verspürte, sich umzublicken, zwang er sich
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