Die Reise in die Dunkelheit
dass er die Barbareien der Menschen nicht länger ertrug. Diese Menschheit hatte keine bessere Zukunft verdient. Nach dem Untergang der Insel konnte man eine mehr oder weniger erträgliche Zukunft sowieso vergessen. Es gab keine mehr. Es gab nur noch die schreckliche und unwägbare Gegenwart. Die letzten Zuckungen einer aussterbenden Art …
Der Junge fühlte sich deprimiert und innerlich leer . A ls er vom neuen Auftrag seines Stiefvaters erfuhr, reagierte er zurückhaltend. Dass man einen erfahrenen Stalker mit den Ermittlungen betraut hatte, war nur konsequent. Genau wie dessen Absicht, das Reich der Veganer aufzusuchen. Dafür stellte sich eine ganz andere Frage: Wieso hatte Taran sich bislang nicht um die Suche nach seinem eigenen Sohn gekümmert?
Gleb konnte das natürlich nicht gefallen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass es ihn kränkte. Doch schon im nächsten Moment schämte er sich dafür. Die Seeleute bedrohten die bewohnten Stationen mit Giftgas, das Leben Tausender unschuldiger Menschen, ja der gesamten Bevölkerung der Metro stand auf dem Spiel. In einem solchen Moment an sich selbst zu denken, war der Gipfel des Egoismus, und Selbstmitleid überhaupt das Allerletzte! Gleb stand auf – fest entschlossen, auch allein klarzukommen, wenn sein Stiefvater Wichtigeres zu tun hatte.
»Onkel Viktor, an der Gostinka montieren sie Bleche in den Lüftungsschächten. Bestimmt gegen einen Gasangriff. Vielleicht sollten Ihre Leute das auch machen?«
»Sind schon dabei . A ber es wird uns wohl kaum retten. Senfgas ist ein Teufelszeug. Was man da mit einer einzigen Flasche anrichten kann – ich will gar nicht dran denken. Wenn die Seeleute eine Station vergiften wollen, dann schaffen sie es auch.« Tjorty drückte seine Zigarette aus und sah den Jungen an. »Hoffen wir also, dass sich Taran mit seinen Nachforschungen beeilt. Sonst sind wir alle dran …«
Mit Auroras Zeichnung machte sich eine verstärkte Patrouille auf den Weg, um die Keller des Apraxin dwor zu durchsuchen. Für Gleb und Aurora organisierte Viktor Terentjew eine Übernachtungsmöglichkeit an der Station . A ußerdem reservierte er ihnen zwei Plätze in einem Handelstross, der am nächsten Morgen zur Moskowskaja aufbrach. Nach dem ereignisreichen und emotional belastenden Tag nahmen die Kinder die Hilfe dankend an.
Im Unterschied zu Aurora, die friedlich schlief, tat Gleb in dieser Nacht kein Auge zu. Stattdessen erinnerte er sich wehmütig an seinen kurzen Besuch auf der Insel. Dabei wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er wohl nie wieder die Chance haben würde, etwas ähnlich Wunderbares zu sehen.
Das Verschwinden dieses paradiesischen Fleckens unberührter Natur hatte eine bedrückende Leere in seiner Seele hinterlassen . A ls hätte man ihm etwas existenziell Wichtiges entrissen … Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft? Oder waren das nur kindliche Illusionen, nutzlose Träume, die nur dabei störten, die Unzulänglichkeit der Welt und menschliche Fehler mit nüchternen Augen zu betrachten?
Zum ersten Mal empfand Gleb beim Gedanken an die Zukunft keine Aufbruchstimmung, sondern nur Resignation und Apathie. Vielleicht deshalb, weil er den Glauben an die Menschen verloren hatte. Oder weil er einfach erwachsener geworden war.
12
DIE ÜBERFAHRT
Was für ein göttlicher Duft. Köstlich und absolut unverwechselbar. Den Geruch von Buchweizengrütze mit Dosenfleisch verband Gleb aufs Engste mit dem Krankenhausbunker. Dort hatte er dieses schlichte Gericht zum ersten Mal gegessen. Seither begann fast jeder Morgen mit diesem Frühstücksritual: die heimelige, kleine Küche mit dem Holztisch an der Wand und zwei Schüsseln mit dampfender Grütze darauf – eine für ihn und eine für Taran.
Dem Jungen lief das Wasser im Munde zusammen. Er sprang von der Pritsche auf und stutzte, als er sich nicht in der vertrauten Umgebung des Bunkers wiederfand, sondern in einer Kammer mit Eimern, Schrubbern und sonstigem Haushaltsgerät. Die Schlafmütze Aurora schlummerte friedlich an der gegenüberliegenden Wand, wo sie sich auf einer alten Matratze zusammengerollt hatte.
Gleb schlüpfte in seine Stiefel und ging in den Nebenraum hinüber – eine staubige Lagerkammer mit Regalen, die mit allem möglichen Krempel vollgestopft waren. Mitten in diesem Chaos befand sich ein winziger Tisch. Darüber baumelte eine einsame Lampe, die an einem schimmligen Kabel von der Decke hing . A uf einem Kästchen neben dem Tisch stand ein
Weitere Kostenlose Bücher