Die Reise ins Licht
unterbrach ihn Kondor. »Du bist gerade mal einen Tag dabei, aber uns brummen schon die Ohren von deinen Predigten.«
Der junge Sektierer verstummte sogleich und ging in seine Ecke zurück.
»Wieso habt ihr euch verspätet?«, fragte Taran.
»An der Baltiskaja war die Strecke zusammengesackt. Wir mussten etwas warten, bis der Durchgang wieder frei war. Schaman, skizziere unseren Gästen die Situation.« Kondor rutschte ans Tischende und fing an, ein wuchtiges Petscheneg-Maschinengewehr Ref. 10 auseinanderzunehmen.
An den Tisch setzte sich nun ein kleingewachsener, gut genährter Mann mittleren Alters. Er war der Einzige unter den Anwesenden, der älter aussah als Taran. Die langen, grau melierten Haare des Stalkers waren im Nacken zu einem sorgfältigen Knoten zusammengebunden. Auf dem Kopf trug er einen kniffligen Reif mit einem Linsen-Set für das linke Auge. Schaman nickte Taran zu,
hakte die sehnigen Hände ineinander und rückte die Karte näher.
»Vor einigen Tagen haben die Stalker von der Wassiljeostrowskaja einen Streifzug unternommen. Auf einer der Uferanhöhen haben sie Rast gemacht.« Schaman tippte auf einen Stadtplan von Petersburg. »Genau hier, hinter der Primorskaja . Sie haben ein Licht gesehen. Ungefähr aus Richtung Kronstadt. Allem Anschein nach ein Signalscheinwerfer. Die Signale waren so verworren, dass sie sich nicht entschlüsseln ließen. Die Spinner von ›Exodus‹ denken, dass ein Schiff in den Finnischen Meerbusen eingelaufen ist. Nach dem Motto, die Retter aus Wladiwostok.«
»Ja, genau!« Der Sektierer sprang wieder auf. »Die Erlöser aus dem Gelobten Land!«
»Schweig, Einfaltspinsel!« Schaman wandte sich Taran zu. »Kurz gesagt: Ich weiß nicht, woher ›Exodus‹ diese Information hat. Aber sie nehmen an, dass Wladiwostok dem Raketenschlag entgangen ist und nun im ganzen Land die verbliebenen Überlebenden einsammelt.«
Im Saal herrschte eine lange Pause. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Es klingt naiv«, fuhr Schaman fort, »aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, wie man sagt. Nur die Jungs von der ›Technoloschka‹ haben noch eine andere Version. Auf dem Gelände der Kronstadter Werft KMOLS Ref. 11 soll es einen Atomschutzbunker geben. Angeblich einen ziemlich geräumigen. Und wenn man bedenkt, dass das Werk für das Verteidigungsministerium gearbeitet hat … Ein riesiger Bestand an Ressourcen und Technologie. Kurzum, die Masuten sind sicher, dass die Signale von Überlebenden
gesendet werden. Und sie glauben, dass wir mit denen unbedingt in Kontakt treten sollten. Einen Scheinwerfer, der bis Kronstadt reicht, haben sie nicht gefunden. Also haben sie die Allianz hinzugezogen. Und die Führung hat jetzt beschlossen, eine Expedition auszurüsten, um ganz sicherzugehen. Nur dummerweise ist bisher keiner von uns jemals so weit außerhalb der Stadt gewesen.«
»Du wirst uns auf dem Marsch helfen, Stalker«, setzte Kondor ein. »Aber ich warne dich gleich: Stell dich nicht quer. Meine Befehle sind ohne Widerspruch auszuführen. «
Taran hatte sich die ganze Zeit über nicht gerührt. Nun hob er die Augen zu dem Anführer und schaute ihn mit diesem langen Blick an, von dem Gleb immer Gänsehaut bekam.
»Vergiss es.«
Alle drehten gleichzeitig den Kopf zum Tisch und traten unmerklich näher. Eine weitere lange Pause.
»Und der Grund wäre?«
Taran stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch. »Wenn wir Rast machen, kannst du deine komische Truppe meinetwegen herumkommandieren bis zum Abwinken. Aber unterwegs führe ich. Nicht einmal atmen werdet ihr ohne meine Erlaubnis. Falls ihr dann überhaupt noch atmen könnt.«
Noch eine ganze Weile maßen sich die beiden mit ihren Blicken. Die Spannung nahm mit jeder Sekunde zu und drohte, sich in einer heftigen Prügelei zu entladen.
»Du vergisst dich, Stalker! Deine Rolle in der Mission, die von der Allianz vorgeschlagen wurde …«
»Ich hab mich eurer Allianz nicht aufgedrängt! Meinen eigenen Hintern zu riskieren wegen des betrunkenen Gefasels irgendwelcher altersschwacher Narren …«
Kondor hörte nicht mehr zu. Seine riesige Faust, die einem Vorschlaghammer ähnelte, schnellte nach oben. Taran wich zur Seite aus und sprang über den wackligen Tisch. Mit aufgesperrtem Mund verfolgte Gleb die blitzschnellen Bewegungen dieser beiden Kampfmaschinen. Angriff und Verteidigung folgten aufeinander in schnellem Wechsel. Ein Stuhl wurde von einem heftigen Fußtritt gegen die Wand geschleudert und zerbrach.
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