Die Reise ins Licht
Ferne gerichtet, auf einen Punkt jenseits dieser primitiven Gebetsstätte, jenseits der dumpfen, feuchten Tunnel, jenseits der strahlenden Erdschichten. Zur Oberfläche.
»Hört, Brüder! Der Tag ist nah, da unsere sündigen Seelen errettet werden. Nah ist der Tag, da unsere Familien aus dem Kerker der unterirdischen Welt befreit werden!« Die Stimme des Messias wurde immer lauter, sie benebelte und hypnotisierte die Menschenmenge. »Heute hat der Diener des ›Exodus‹ erneut ein Zeichen gesehen. Dort, am Großen Wasser, hat er gestanden, ungeachtet der Gefahr
der vergifteten Welt, so lange bis sich seinem Blick das gleißende Licht offenbarte! Das Licht der Arche, die bereits ihre Ankunft ankündigte! Die Erlösung ist nah! ›Exodus‹ wird alle Leidenden auf die Arche geleiten, und die Ufer des Gelobten Landes werden sich uns eröffnen! ›Exodus‹ glaubt an die Errettung! ›Exodus‹ betet für euch! Betet auch ihr, Brüder und Schwestern! Es kommt die Zeit des Großen Exodus! Es naht die Erlösung!«
»Es kommt die Zeit des Großen Exodus!«, stimmten die Gemeindemitglieder in gemeinschaftlicher Ekstase ein. »Es naht die Erlösung!«
Der Messias in der Robe setzte den Kelch vorsichtig auf dem Podest ab. Der Menge zeigte sich ein kleines Spielzeugschiff, das sich auf dem Wasser wiegte. Das Licht einer dünnen Kerze, die in der Mitte des Bootes aufgestellt war, fesselte ihre Blicke. Das Stimmgewirr verstärkte sich.
»Es naht die Errettung! ›Exodus‹ naht!«
Gleb hörte nicht, wie Taran zurückkam. Als der Junge gegen Morgen aufwachte, fand er seinen Meister friedlich schlafend auf der Liege gegenüber. Glebs Magen knurrte vor Hunger, doch zögerte er aufzustehen, um nicht aus Versehen den Stalker zu wecken. Die Situation löste sich von selbst, als der »Empfangschef« von gestern an die Tür klopfte. Der schlaue Alte kam in der festen Absicht, die Mieter entweder an die Luft zu setzen oder aber für eine weitere Übernachtung zahlen zu lassen. Taran stand auf und schob fluchend eine weitere Packung Tabletten unter der Tür durch.
Merkwürdigerweise beschränkte sich ihr Aufenthalt auf der Station nicht nur auf die Übernachtung. Taran wartete offensichtlich auf etwas oder jemanden, weihte aber Gleb nach wie vor nicht in seine Pläne ein. Nach einem spartanischen Frühstück machte sich der Stalker daran, seinen Schüler zu drillen: Er ließ Gleb Kniebeugen und Liegestütze machen bis zum Umfallen – und zwar mit dem Rucksack auf den Schultern. In den kurzen Verschnaufpausen brachte ihm Taran den Umgang mit Waffen bei. Zum Mittag beherrschte Gleb die schwere Pernatsch bereits einigermaßen und konnte sie in wenigen Augenblicken laden. Danach führte Taran den Jungen in die Grundlagen des Messerkampfs ein. In den erfahrenen Händen des Stalkers flatterte Glebs Fallschirmjägermesser wie ein Schmetterling hin und her. Von seinem Schüler forderte er das natürlich nicht, sondern beschränkte sich darauf, ihm die Methoden beizubringen, wie er am effektivsten einen Gegner töten oder bewegungsunfähig machen konnte. Von all den Geschichten über Sehnen und Arterien wurde Gleb übel. Dennoch hörte er seinem Meister äußerst konzentriert zu, denn nach jeder ungenau ausgeführten Bewegung verpasste dieser ihm sofort eine mächtige Ohrfeige.
Gegen Abend verfluchte der Junge den Stalker im Stillen. Seine Muskeln waren steif geworden und schmerzten dumpf, der Kopf dröhnte vor lauter Informationen. Taran blickte immer häufiger auf die Uhr und horchte besorgt in den Gang hinaus.
Gegen Mitternacht machte sich erneut jemand an der Tür bemerkbar. Dieses Mal jedoch erbebte sie und knarrte fürchterlich unter den mächtigen Schlägen, die gegen sie
donnerten. Taran öffnete – und Gleb fiel mit einem Ausruf der Verwunderung vom Bett und riss den alten Tisch mit sich. Im Türrahmen stand ein Monster. Der breitschultrige Gigant mit einer Größe von über zwei Metern, einem missgestalteten, fleischigen Gesicht und einem schiefen Lächeln bückte sich ungeschickt und schaute ins Zimmer, als warte er auf eine Einladung. Seine Haut war kränklich, grünlich. Ein Mutant.
Das Ungeheuer beugte sich vor und drängte sich herein. Es nahm fast das halbe Zimmer ein.
»Gennadi«, stellte es sich mit heiserem Bass vor und reichte dem Stalker seine riesige Tatze. »Für meine Freunde: Dym. Und Sie sind, denke ich, Taran.«
»Freut mich.« Der Stalker schüttelte dem Riesen die Hand und zeigte auf den Jungen.
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