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Die Reise ins Licht

Die Reise ins Licht

Titel: Die Reise ins Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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Chefarzt war so davon angetan, dass er mir erlaubte, dort zu wohnen, bis ich genügend Geld zusammengespart hatte. Später wurde das ganze Krankenhaus zur Renovierung geschlossen. Und ich bin als eine Art Bewacher geblieben.«
    Der Stalker unterbrach für einen Augenblick, nahm einen Schluck aus seinem Flachmann und seufzte. »Ich hatte eine
Freundin. Sie war schön – wie du, Nata. An jenem Tag hatten wir beschlossen, ins Zentrum zu fahren und auf dem Newski spazieren zu gehen. Ich stand an der Moskowskaja und wartete. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Ein herrlicher Tag. Dann heulten plötzlich die Sirenen auf. Ihr habt sicher die Lautsprecher auf den Häusern gesehen? Die liefen auf vollen Touren. Die Leute standen da und sahen sich um. Die Jugendlichen machten noch Scherze und kicherten rum. Aber die Sirene hörte einfach nicht auf zu heulen. Irgendwann ist dann so ein Großmütterchen mit lautem Geschrei zur Unterführung gewetzt, und da sind sie auf einmal alle unruhig geworden. Zuerst einzeln, dann in Grüppchen begannen sie zur Metro zu laufen. Als dann ein Wagen der Verkehrspolizei an der Unterführung bremste und die Bullen aus der Karre rausgesprungen und sofort nach unten gestürzt sind, sind die Menschen buchstäblich aufgewacht. Mit lautem Gezeter stürzten sie los, in die Metro.
    Ich hab gleich nach meinem Telefon gegriffen – damals trug so gut wie jeder eines mit sich rum –, um Oxana anzurufen. Während ich wartete, dass sie abnimmt, sah ich, wie die Menschen aus allen Richtungen zu den Unterführungen liefen. Die Autofahrer mussten scharf bremsen, denn auf einmal waren überall Leute auf der Fahrbahn. Ein Bus wich zur Seite aus und raste mit voller Wucht in ein Blumengeschäft – beide Verkäuferinnen waren sofort tot. Ringsum Geschrei, Gebrüll. Alle rannten, brachen sich die Beine auf den Stufen. An den Unterführungen herrschte ein wahnsinniges Gedränge. Kinder kreischten und weinten. Die Leute waren wie wahnsinnig geworden. Drängelten,
stießen, prügelten sich, teilweise sogar mit Flaschen. Jeder wollte auf einmal leben. Ein Mann zog ein Mädchen aus der Menge. Sie war bewusstlos. Ich dachte mir, toll, gut gemacht, er rettet sie. Aber dieses Arschloch warf sie aufs Gras und fing an, ihr die Sachen runterzureißen. Da bin ich ausgeflippt. Ich weiß nur noch, dass ich auf seine Fresse eingeprügelt habe, bis mir die Hand wehgetan hat.
    Dann bemerkte ich Oxana. Die Arme humpelte, denn ihr war ein Absatz abgebrochen. Vollkommen aufgelöst war sie, die Augen vor Schrecken aufgerissen wie zwei Untertassen. Als sie mich sah, winkte sie freudig. Im nächsten Augenblick hatte die Menge sie verschluckt und schleppte sie über den Asphalt mit. Schleifte sie mit. Trampelte über sie hinweg …
    Ich weiß nicht mehr, wie ich mich zu ihr durchgeschlagen habe. Überall waren Leichen. Verwundete stöhnten. Der Gehweg war glitschig von all dem Blut. Und das alles innerhalb weniger Minuten. Mein Mädchen lag da mit offenen Augen und schaute in den Himmel. Sie war tot.
    Ich zog sie aus dem Chaos heraus, aber dann konnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich bin einfach auf dem Asphalt eingeknickt, wo ich gerade war. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich da gesessen habe. Ich saß nur da und schaute sie die ganze Zeit an. Sie war so hilflos. So zerbrechlich. Ihr erstauntes Gesicht habe ich heute noch vor Augen. Ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit dort zu sitzen. Tatsächlich waren es nur fünf Minuten, nicht mehr.
    Von unten aus der Unterführung waren Schreie zu hören: ›Sie haben die Tore geschlossen!‹, ›Kein Durchkommen zur Metro!‹

    Irgendwo in der Ferne blitzte es auf. Und zwar so grell, dass diejenigen, die in diese Richtung geblickt hatten, die Hände vor die Gesichter schlugen. Sie rieben sich die Augen, krümmten sich. Mir war auf einmal so unheimlich zumute, dass ich alles auf der Welt vergaß. Die Leute, ja sogar meine Geliebte …
    Während ich zum Krankenhaus rannte, blitzte es noch mehrmals auf. Aber, Gott sei Dank, irgendwo in der Ferne. Unterwegs kamen mir ständig Menschen entgegen. Sie alle hetzten zur Metro. Eine Frau schien ihre beiden Kinder schon fast hinter sich herzuschleifen. Die Armen konnten nicht mit ihr Schritt halten. Ständig stolperten sie und weinten.
    Ich raste weiter. Dachte nicht mal daran, dass ich sie vielleicht hätte retten können. Ich war vor Angst völlig von Sinnen. Ich lief, was ich konnte. Rettete meine eigene Haut. Während ich

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