Die Reise ins Licht
zu gehen, die kristallklare Herbstluft mit voller Brust und ohne jegliche Atemmasken einzuatmen. Schade, dass seine Eltern dies nicht mehr erleben würden. Es hätte ihnen sicher gefallen. Gleb musste bei diesen Gedanken lächeln.
Die anderen Stalker hatten bereits eine ordentliche Entfernung zurückgelegt. Nun standen sie schweigend am Wasser, direkt gegenüber dem Schiff, versuchten aber aus irgendeinem Grund nicht, die Aufmerksamkeit der Besatzung zu erregen. Kondor stand reglos da und presste das Fernglas an seine Augen.
Je mehr sich Gleb und sein Meister den anderen näherten, umso mehr neue Details erschlossen sich ihrem Blick. Das Schiff hatte etwas Schlagseite – es war auf eine Sandbank aufgelaufen. Die Seitenwände waren von Rostflecken bedeckt, als wären sie von Aussatz befallen, vor allem aber klaffte in der linken Bordwand, die vorher nicht zu sehen gewesen war, ein Leck von ungeheurer Größe. Durch dieses Leck rollten monoton die schäumenden Brandungswellen in das Schiff hinein wie in einen Hafen. Entlang der gesamten Bordwand hatte sich eine wogende, schwarze
Masse angesammelt aus Algen, vermodernden Balken und dunkelorangefarbenem Schaum. Anscheinend war der Kreuzer auf der Sandbank vor vielen Jahren aufgegeben worden – ein weiteres Denkmal einer vergangenen Epoche. Jener Epoche, als der Mensch beschlossen hatte, die Welt mittels einer Vernichtungswaffe zu seinen Gunsten zu verändern. Die Welt hatte sich verändert. Freilich überhaupt nicht so, wie der Mensch es sich gewünscht hatte. Warum gewannen Habgier und Anmaßung immer die Oberhand über den nüchternen Verstand? Wie war es möglich, selbst die unsinnigsten Entscheidungen und Taten mit dem »Wohl der Menschheit« zu verschleiern?
Die Gefährten stierten noch immer dumpf auf das Schiff.
Natürlich hatten sie die Ammenmärchen vom »Exodus« nicht wirklich geglaubt, aber insgeheim hatte jeder von ihnen dennoch auf ein Wunder gehofft.
»Na, Bruder, ist das etwa deine Arche?« Schaman schaute den Sektierer scheel an.
Ischkari sank langsam zu Boden und schwieg. In seinen Augen war Bestürzung zu sehen und … nein, Enttäuschung war es nicht. Eher Befremden, Unwillen, das zu glauben, was hier geschah. Und am Ende: Müdigkeit. Ischkari seufzte tief.
Gleb fühlte sich nur wenig besser als der Sektierer. Erneut hatte ihnen die Hoffnung gewunken und war dann vor ihren Augen dahingeschmolzen. Es war schwer, sich mit der Enttäuschung abzufinden, besonders jetzt, da sich das ersehnte Ziel so nah befunden hatte. Es war, als hätte er seine Hand ausgestreckt und – ins Leere gegriffen. Die Vision von der wunderbaren Stadt war mit einem Schlag
in weiter Ferne verschwunden und der trostlosen Landschaft des öden Brandungsstreifens gewichen.
Kondor näherte sich dem Wegführer und sagte: »Wir sollten es untersuchen.«
»Das Licht kann kaum von dem Schiff gekommen sein.« Taran reichte dem Kämpfer die Karte. »Kronstadt läge dann direkt in der Bahn des Lichtstrahls. Unwahrscheinlich.«
»Wir müssen sicher sein. Wir sollten es uns ansehen.«
Es war offensichtlich, dass Kondor Zweifel hatte. Ihre Verluste stiegen jeden Tag, und er wollte das Leben der restlichen Kämpfer nicht umsonst aufs Spiel setzen. Taran, der die Qual des Stalkers bemerkt hatte, sagte entschlossen: »Ich geh rein. Ihr wartet hier.«
Taran ließ Kondor keine Möglichkeit zu widersprechen. Er legte Rucksack, Waffe und Marschweste ab. Nach einem Blick auf den Geigerzähler streifte er die Atemmaske ab, zog den Schutzanzug und seine Sachen aus. Gleb sah seinen Meister verstohlen an. Quer über den ganzen Rücken verlief eine hässliche Narbe. An der linken Wade war deutlich ein Gebissabdruck zu erkennen. Am Unterarm zeugte eine vernarbte Vertiefung davon, dass ihm bei einem seiner zahlreichen Scharmützel offenbar ein Teil des Muskels herausgerissen worden war.
»Du hast doch nicht etwa vor, ins Wasser zu steigen? Wir suchen lieber was, womit du rüber kommst.«
»Ich habe schon Ewigkeiten nicht mehr gebadet. An die zwanzig Jahre wahrscheinlich.« Taran packte seine Sachen in eine dicke Plastiktüte, band sie an seinem Gürtel fest und warf sich sein Gewehr über die Schulter. »Wann werde ich je wieder die Gelegenheit dazu haben …«
»Du wirst verstrahlt!«
»Nicht so schnell.« Er steckte sein Messer ein und ging ins Wasser.
»Das ist doch Wahnsinn«, murmelte Kondor und nahm seine Petscheneg von der Schulter.
Die Stalker verfolgten angespannt, wie sich die
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