Die Reise ins Licht
alle nach diesem schweren Tag erfasst hatte. Der Junge atmete tiefer und langsamer. Die Grenze zwischen Schlafen und Wachen verschwamm, löste sich in einem nebligen Dunst auf, der das Bewusstsein einhüllte und den Schmerz aus den verausgabten Muskeln drängte. Sein Körper wurde allmählich leicht und schwerelos, und er begriff, dass er bereits eingeschlafen war. Verwundert stellte Gleb fest, dass sein Bewusstsein dabei kristallklar geblieben war. Als er sich an diese neue Form der Wahrnehmung gewöhnt hatte, versuchte er zuerst die eine, dann die andere Hand zu bewegen. Vorsichtig stand er auf, ganz ohne die gewohnte Schwere seines
Körpers, und schaute nach unten. Seine Beine waren nicht da, ja sein ganzer Körper fehlte. Er schwebte mitten in dem Raum, als ihm klar wurde, dass er doch eigentlich in dieser tiefen Dunkelheit nichts sehen durfte und dennoch die Gestalten der schlafenden Stalker deutlich erkannte. Der Junge schaute sich um. Sein Blick blieb an der Tür hängen, unter der ein dünner Lichtstrahl zu erkennen war.
Das ist alles ein Traum, beschwichtigte sich Gleb und schwamm zum Ausgang hin, ohne dass ihm seine neue Situation Unbehagen bereitete. Das Gefühl von absoluter Freiheit berauschte ihn. Ohne einen Anflug von Angst drang Gleb durch die Tür und schwebte in den Tunnel hinaus. Aus dem Gang gegenüber drang ein unregelmäßiges Licht. Er flog zur anderen Seite, durchquerte den engen Verbindungsgang und gelangte schließlich in den linken Tunnel.
Auf einmal strömten Geräusche an ihm vorbei: nervöses Flüstern, Schluchzen, Fluchen. Ringsherum waren Menschen, viele Menschen – der hell erleuchtete Tunnel war brechend voll. Sie drangen aus ihren Autos hervor, standen da und lauschten angespannt auf das Rollen des Donners. Gleb schwebte über ihren Köpfen und betrachtete die bleichen, verängstigten Gesichter. Sein Blick stockte bei einer Frau, die ein kleines Mädchen in ihren Armen hielt. Die Mutter blickte sich gehetzt um, drückte ihr Kind fest an sich. Panik stand in ihren Augen. Das Mädchen drückte ebenso ängstlich einen Plüschbären an die Brust und weinte ununterbrochen.
Von den fernen Ausgängen her blitzte ein grelles Licht auf. Der Tunnel erbebte, die Menschen fielen auf den Asphalt. Erschrockene Schreie ertönten. Die Lampen flackerten
kurz auf, dann erloschen sie, die trübe Notbeleuchtung ging an und die erschrockenen Gesichter versanken im Halbdunkel. Dann schwoll der Donner an, und ein Wind erhob sich mit vielstimmigem Geheul. Im Handumdrehen erfüllte er den Raum mit einem Gemisch aus Sand und Abfall. Einige der Menschen versuchten, ihre Gesichter mit Jacken zu bedecken, andere wieder kletterten ins Innere der Autos, um sich vor dem rasenden Staubwirbel zu retten. Gleb spürte, wie die Temperatur anstieg. Von Sekunde zu Sekunde wurde der Wind immer heißer, schon verbrannte er die Haut. Das Wehgeschrei überall verschmolz zu einem unheimlichen, nicht enden wollenden Getöse. In der Ferne loderte grelles Licht. Es wurde unerträglich heiß. Die Menschen fingen an, hin und her zu laufen. Einige stürzten zum Ausgang. Das Tosen nahm mit jeder Sekunde zu. Der Tunnel vibrierte immer stärker. Der Putz an der Decke löste sich und fiel herunter.
In dem verzweifelten Versuch, ihre Tochter zu retten, stopfte die Frau sie in den nächststehenden Jeep. Die Leute darin nahmen das Kind entgegen und kurbelten die Fensterscheiben hoch. Das Mädchen hämmerte gegen das Glas und blickte seine Mutter an, aber die stand entrückt da, blickte ein letztes Mal auf ihren Liebling und lächelte. Sie wollte glauben, dass dieser verzweifelte Schritt ihr Kind vor der nahenden Katastrophe schützen würde.
Mehrere Explosionen erhellten das Gesicht der Frau – durch den Tunnel raste eine Feuerwelle. Einen Augenblick stand sie noch bei dem Auto, dann kochte ihr Lächeln auf und zerschmolz. Mit einem Schlag verstummten die Schreie, gingen unter im Tosen der Flammen. Die Druckwelle riss
die Scheiben heraus, Autos wirbelten durch die Luft, wurden zusammengepresst und gegen die Wand geschleudert. Das Feuer, das in einer erbarmungslosen, alles verschlingenden Welle durch den Tunnel rollte, leckte in einem einzigen Augenblick all die Menschen auf – mit ihren Ängsten, ihrem Flehen und ihren unbedeutenden Problemen.
Nach einigen irrwitzig langen Minuten war alles zu Ende. Das Tosen der Flammen hörte auf, die Feuerwand rollte fort und wurde kleiner. Der gesamte Raum von der Decke bis zum Boden war von
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