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Die Reise ins Licht

Die Reise ins Licht

Titel: Die Reise ins Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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feuchtkalten Luft.
    Gleb schlug sich durch dichtes Gebüsch und stand plötzlich am Rand eines verlassenen, grasbewachsenen Docks. Wie ein riesiger gestrandeter Wal ruhte das Wrack eines U-Boots in dem ausgetrockneten Kanal. Der Junge hatte schon von solchen Schiffen gehört, die einst die Tiefen des Meeres bereist hatten. In einem Buch seiner Freundin Nata hatte er sogar einmal eine Abbildung gesehen. Nun aber sah er einen solchen von Menschenhand gefertigten
Riesen aus nächster Nähe. Allerdings war er gar nicht so leicht zu erkennen: Ein Teil der Außenwand fehlte, und durch die riesigen Löcher in dem rostigen Rumpf konnte man die Schotts erkennen – das Skelett eines eisernen Mastodons.
    Wie viele Jahre lag dieses Monstrum schon hier? Womöglich hatte dieses Boot einst die Ufergewässer von Wladiwostok durchpflügt … Für einen Augenblick stellte sich der Junge vor, wie es, die Seitenwände glänzend von frischer Farbe, die Wasserfläche durchkreuzte. Und wie oben, im Steuerhaus, er und sein Meister standen, den Blick auf das nahe Festland gerichtet.
    Ein rhythmisches Knacken holte Gleb in die Wirklichkeit zurück, das die Melodie des Windes schon geraume Zeit unaufdringlich begleitete. Die Erkenntnis, dass dies sein Geigerzähler war, durchfuhr ihn wie ein Blitz. Er stürzte davon, so schnell ihn die Beine trugen, und lauschte fortwährend auf das Knattern des Geräts. Fast sogleich verstummte dieses wieder, doch der Junge konnte sich lange Zeit nicht beruhigen. War er verstrahlt worden? War ihm nun dasselbe Schicksal bestimmt wie Okun? Voller Furcht rannte er Hals über Kopf davon.
    Völlig entkräftet sank Gleb schließlich neben einem altersschiefen Schuppen ins Gras. Was hatte Ksiwa nochmal über Wodka gesagt? Dass man damit nicht nur die Strahlung, sondern auch schlechte Gedanken wegspülen könne? Dies schien der geeignetste Moment zu sein, sich um das eine wie das andere zu kümmern. Der Junge wühlte in seinem Rucksack herum, ertastete den Flachmann, den er von Ksiwa zur Aufbewahrung erhalten hatte, und
schraubte den Verschluss ab. Die kalte Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und setzte sich wie ein Kloß irgendwo in ihm fest. Gleb zwang sich, noch einen Schluck zu nehmen und musste husten. Er beobachtete, was mit ihm vor sich ging. Die schlechten Gedanken waren nicht verschwunden, dafür hatte er nun im Mund einen widerlichen Nachgeschmack. Der Junge kickte den Flachmann in die Büsche, setzte sich die Atemmaske auf und marschierte weiter.

DRITTER TEIL
OFFENBARUNGEN

16
DIE REISE INS LICHT
    Wenig taugt ein Mensch, wenn er noch nie verzweifelt war. Denn nur wer dieses quälende Gefühl schon einmal empfunden hat, weiß ein glückliches Leben wirklich zu schätzen. Nur wer am eigenen Leib die Schläge gespürt hat, mit denen das Schicksal unsere Standhaftigkeit immer wieder auf die Probe stellt, kann mit Gewissheit sagen: Ich bin stark. Ich schaffe das. Manchmal weckt die Verzweiflung in uns ungeahnte Kräfte, noch öfter aber treibt sie uns in den Abgrund der Verzagtheit. Denn sie zeigt dem Menschen seine Grenzen auf, indem sie ihn vor die schwere Wahl stellt: entweder zu resignieren und sich das eigene Unvermögen einzugestehen, oder aber selbst in den hoffnungslosesten Situationen die qualvolle Suche nach einem Ausweg fortzusetzen.
    Solche Momente der Verzweiflung verlaufen für jeden von uns auf eigene Weise. An dem einen gehen sie spurlos vorbei, für den anderen ändert sich das Leben von Grund auf. Sich seinen Gefühlen zu ergeben und in Schwermut zu verfallen, ist die einfachere Lösung, doch mitunter lohnt es sich durchaus, sich vorher noch ein wenig umzuschauen. Oft erkennen wir einfach nicht jene Zeichen in
unserer Umgebung, die uns auf mögliche Lösungen hinweisen.
    Es ist hart, immer wieder gegen die äußeren Umstände anzukämpfen, wenn die Chance auf einen Sieg gleich null ist. Wesentlich härter aber ist es später, mit seiner Niederlage zu leben. Mit dem Gefühl, aufgegeben zu haben. Manchmal ist dies sogar so unerträglich, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist, seinen Sinn verliert.
    Zu verzweifeln ist daher gefährlich, noch öfter ist es einfach sinnlos. Genauso sinnlos ist es aber auch zu leben, ohne dieses Gefühl jemals erfahren zu haben. Wenigstens einmal.
     
     
    Taran war nirgendwo zu sehen. Gleb saß, an eine Ziegelwand gelehnt, und versuchte sich zu beruhigen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass sein Meister auf derart dumme Weise umgekommen war. Jeder

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