Die Reise ins Licht
Mal unten im Bunker war, hab ich mit einem Ohr jemanden von Treibsand reden hören. Offenbar ist das Wasser auch bei den Dreckskerlen dort eingedrungen. In dem Durcheinander damals hab ich unbemerkt einen Schlüssel aus dem Tisch des Beamten herausgefischt. Es ist der Schlüssel zu dem Schloss, das die Sicherheitstür am Eingang blockiert. Ich hatte schon so ein Gefühl, dass da etwas Ungutes im Anmarsch war. Unsere Aufseher sind dann in aller Eile weggezogen. Und uns haben sie zurückgelassen …«
An dieser Stelle brach die Aufzeichnung ab. Einige leere Seiten weiter stieß Gleb auf die Fortsetzung. Die Handschrift
machte nun einen holprigen und konfusen Eindruck. Die Buchstaben überlagerten sich zum Teil, und nur mit viel Mühe ließ sich der Text lesen.
»Ich schreibe im Dunkeln – das Lämpchen ist verloschen. Ein ganzer Tag ist ohne Verpflegung vergangen. Der nächste steht bevor. Die Tür zu dem Komplex konnten wir nicht öffnen. Mir ist klar geworden, dass sie uns bei lebendigem Leib verfaulen lassen wollen. Wir sollen einfach elendig verhungern. Also hab ich alle versammelt, die sich noch auf den Beinen halten konnten, und wir sind zum Ausgang gegangen. Die hermetische Tür haben wir aufgebrochen und sind zu dem Tor hinaufgestiegen. Dort haben wir das Werkzeug gefunden, das von dem ersten Versuch zurückgeblieben war. Wir wollen versuchen, sie aufzubrechen, solange wir noch die Kraft dazu haben. Wir wechseln uns bei der Arbeit ab. Ich hab nur das Gefühl, dass mir nicht mehr lange bleibt. Ich bin so hungrig. Durst quält uns bislang noch nicht – wir trinken das Grundwasser aus dem überfluteten Saal …
Am dritten Tag des Hungers ist passiert, was unausweichlich geschieht, wenn die Instinkte an die Stelle des Verstands rücken. An dem Tag bin ich von lautem Geschrei aufgewacht. Und ich bekam Angst. Furchtbare Angst. Die Leute um mich herum hatten vollkommen den Verstand verloren. Sie hatten gemordet, um ihren Hunger zu stillen. Ich erinnere mich noch, ich stand irgendwie auf, ging in Richtung der Schreie. Ich sagte: ›Kommt zur Besinnung! Ihr seid doch Menschen und nicht irgendwelche Tiere!‹ Aber sie antworten mir: ›Halt’s Maul, wenn du fressen willst. Sonst fressen wir dich auch noch …‹
Hunger ist eine furchtbare Sache. Nach einiger Zeit dachte ich mir: Ich hab sie ja nicht selbst umgebracht, also ist es auch keine so
große Sünde. Und so hab ich mit den anderen gegessen. Gegessen und gedacht, dass wir uns nun durch nichts mehr von den Menschenfressern aus dem Bunker unterscheiden. Wir sind genauso. Wenn wir mit ihnen die Plätze tauschen würden, wäre es nichts anderes. Wir würden genauso unser falsches Spiel treiben, um zu überleben. Und deswegen erwartet uns alle dasselbe Schicksal … Ich weiß nicht, wer der Nächste ist. Ich will nicht mehr warten und Angst haben. Ich kann nicht mehr. Ich schneide mir die Pulsadern auf, dann wird es nicht mehr lange dauern …
Ich hoffe auf eines: dass es nicht überall so geendet ist – so unmenschlich. Darum schreibe ich auch und hoffe, dass diejenigen, die einmal hier heruntersteigen, dies lesen werden … Dass sie mich verstehen und mir vergeben … Bei Gott, ich wollte das alles nicht … Mein Leben auf anderer Leute Kosten verlängern … Auch lügen wollte ich nicht … und Hand an mich legen …
Ich habe gesündigt. Ich bereue. Herr, vergib uns allen.«
Der Junge schlug das Tagebuch zu und hob den Kopf.
Er fühlte sich elend, als hätte er eine verdorbene Konservendose geöffnet. Natürlich tat ihm dieser Mann leid. Und wie konnte er ihn verurteilen für seinen Überlebenswillen?
Zumindest war jetzt klar, wer diese Kannibalen waren: die Bastarde aus dem Bunker sowie deren Kinder.
Von unten war ein Geräusch zu hören: Die Eingangstür knarrte. Kurz darauf waren bedächtige Schritte und das dumpfe, kaum hörbare Geräusch der Eisentreppe zu vernehmen. Jemand stieg langsam nach oben. Wie es schien, würde der geheimnisvolle Hausherr des Leuchtturms nun doch noch in Erscheinung treten.
18
DIE BEICHTE
Der Hall der Schritte wurde mit jedem Augenblick lauter, das unangenehme, dumpfe Dröhnen der vibrierenden Stufen machte das Warten unerträglich. Gleb hob die Pernatsch und richtete sie auf den Eingang zur Treppe. Jetzt würde sich alles entscheiden. Der Junge war entschlossen, das Feuer bis zum bitteren Ende zu erwidern. In der Tasche hielt er noch ein letztes Magazin bereit, und die allerletzte Patrone davon
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