Die Reise ins Licht
war für ihn selbst bestimmt. Das aber alles erst später. Jetzt war es unbedingt notwendig, dass er sich zusammenriss und das widerliche Zittern in seinen Knien zur Ruhe brachte. Taran hatte Gleb seinerzeit ja nicht zufällig ausgewählt. Und das bedeutete, dass er es schaffen würde. Hauptsache, er geriet nicht in Panik.
Unterdessen leuchtete von unten ein mattes, schwankendes Licht auf. In dem Türrahmen erschien eine einsame Gestalt in einem Mantel und mit einer Kapuze über dem Kopf. In der Hand hielt sie eine alte Petroleumlampe. Durch das Gitter der Schutzhaube war die züngelnde Flamme zu sehen, deren Licht das Gesicht des Unbekannten jedoch nicht beleuchtete. Der Junge versuchte vergeblich,
die verdeckten Gesichtszüge über seine Zielvorrichtung hinweg zu erkennen. Die Pistole erschien ihm schwerer als sonst, der Finger am Abzug verkrampfte sich vor Anspannung.
Gleb zuckte zusammen, als der Mensch ohne Gesicht beschwichtigend eine Hand hob und anfing zu sprechen: »Warte … Schieß nicht … Ich bin’s doch …«
Die Stimme des Ankömmlings war ihm schmerzlich vertraut. Dem Jungen war in dem Moment gar nicht bewusstgeworden, dass er diesen Mantel schon oft gesehen hatte. Ischkari zog die Kapuze herunter und lächelte.
»Du lebst! Hol’s der Teufel, du lebst!«
Gleb ließ die Pistole fallen und lief dem Sektierer freudig entgegen. Sie umarmten sich wie alte Freunde. Der Junge lachte und weinte zur gleichen Zeit. Er war so froh, dass hier jemand war, mit dem er die Last und das Unglück dieser scheinbar ausweglosen Situation teilen konnte.
»Ich hab mich schon gefragt, wie du von der Barkasse verschwunden bist!«
»Rausgesprungen bin ich! Und wie hast du überlebt?« Gleb wischte sich die Freudentränen ab und verschlang Ischkari mit seinem Blick, als ob er befürchtete, dass dieser einfach so wieder verschwinden könne wie ein wunderbarer Traum.
»Abgehauen bin ich. Als diese Psychos uns überfallen haben, bin ich ins Wasser gesprungen. Wir müssen fliehen, hörst du, fliehen!«
Der Sektierer hob die Pistole auf und reichte sie Gleb. Der Junge streckte die Hand nach ihr aus, doch im nächsten Moment holte Ischkari aus und schlug ihm mit voller
Wucht den Griff ins Gesicht. Von Schmerz geblendet stürzte Gleb zu Boden. Aus seinem Jochbein strömte heißes Blut. Sein Blick verschleierte sich, die Gestalt des Sektierers verschwamm und der Boden unter ihm schwankte. Der Junge versuchte sich aufzurichten, fiel aber von neuem hin. Die Kälte des Betonbodens brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Worte drangen an sein Ohr, die er nur vage verstand.
»Rühr dich nicht, Welpe, oder du frisst Blei. Ich setze mit Vergnügen einen fetten Schlusspunkt unter die heldenhafte Geschichte der Expedition. Du bist ja der Einzige dieser ganzen Bande von Versagern, der noch nicht verreckt ist.«
Der Sektierer durchquerte das Zimmer und stellte seine Lampe in ein Fach des Schranks. Dann untersuchte er eingehend die aufeinandergestapelten Aggregate, legte einen Kippschalter um und beugte sich über die verschlissenen Leitungen. Schließlich steckte er das Kabel wieder ein und schaltete die Anlage an. Gleb drehte sich auf den Rücken und beobachtete Ischkaris Treiben. Dann stemmte er sich mit den Händen hoch und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Der Schmerz ließ ein wenig nach, das Zimmer hörte auf zu schwanken.
»Logisch, dass du jetzt auf der Leitung stehst, Kleiner. Pass auf, ich erklär’s dir.« Der Sektierer grinste. »Hat dir meine Idee mit dem Leuchtturm gefallen? Ja, die ist von mir. Hättest du nicht erwartet? Tja, du wirst dich heute noch öfter wundern. Wenn du ruhig sitzen bleibst und nicht rumtrickst, bekommst du noch eine Gnadenfrist. Also genieße deine letzten Minuten. Es heißt immer: Kommt
der Tod, ist’s eh zu spät … Blödsinn: Alle, die ich bisher erledigt habe, haben vorher um Aufschub gebettelt. Wenigstens für einige Minuten. Das Leben in dieser grässlichen Welt ist kein Spaß, Bruder, und doch klammern sich die Menschen wie wahnsinnig daran.«
Der Sektierer trat wieder an den Schrank, öffnete die rissige Tür und holte eine staubige Flasche heraus. Er schüttelte den trüben Inhalt, nahm einige gierige Schlucke und atmete tief durch.
»Ah … Eine Woche habe ich nichts getrunken. Ohne Alkohol ist es hier trostlos.« Der Sektierer wischte sich den Mund an seinem Ärmel ab. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja: der Leuchtturm. Da muss ich wahrscheinlich mit dem Bombenschutzkeller
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