Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
für das Unglück verantwortlich gemacht. Aber ich setze mal Kurs auf Stonehenge. Ihr könnt euch unterdessen im Steuerhaus ausruhen.«
EIN UNFREUNDLICHER EMPFANG
Der Schraubendampfer machte nur langsam Fahrt und als Stonehenge in Sicht kam, war es bereits hell. Aber es zeigte sich noch keine der beiden Sonnenschwestern über dem Giftsee.
»Die Schwestern tauchen hier unten erst gegen Mittag auf«, erklärte der Kurier. Am frühen Nachmittag verschwinden sie dann wieder. Ihre Bahn führt hier nicht längs des Grabens, sondern schräg darüber hinweg.«
»Gibt es denn Gräben, die in Richtung der Sonnenbahn liegen?«
»Ich kenne nur zwei. Aber andererseits es gibt Gräben und Kessel in höheren Breiten, wo die Sonnen überhaupt nie scheinen.«
Martin lehnte an der Reling. Die Luft schmeckte nach Seetang und war angenehm warm. Die Stadt, die in Fahrrichtung lag, sah aus, als wäre sie direkt einem Traum entsprungen. Auf eine erste Stadt mit kleinen Häusern und schmalen verwinkelten Gassen hatte man eine zweite Stadt gebaut und dann noch eine und noch eine, bis zu einem Berg von übereinander geschichteten Häusern, Brücken, Straßen. Ein riesiges, unübersichtliches Gewirr, in das die Ausläufer des Giftsees hineinreichten und Fjorde bildeten. Die einzelnen Stadtschichten waren gut zu unterscheiden. Jede war in einem anderen Stil errichtet worden. Unzählige Treppen waren zwischen ihnen zu sehen und Brücken, die auf allen Höhenstufen über die Wasserstraßen führten. Überall waren Menschen und Roboter unterwegs. Oben auf dem höchsten Stadtniveau hatten viele Luftschiffe angedockt, große und kleine, und unten in den fjordähnlichen Ausläufern des Giftsees waren alle denkbaren Schiffs- und Bootstypen unterwegs, vom Segler bis zum Raddampfer. Welch ein Kontrast zu dem leeren, unheimlichen Fort Watt. Stonehenge quoll über vor Leben. Um die Düsternis in den Straßenschluchten, den verwinkelten Gassen und in den Fjorden zu vertreiben, brannten unzählige Lichter; ob Gaslaternen oder elektrische Lampen, konnte Martin aus der Distanz nicht erkennen.
»Das ist eine fantastische Stadt«, bemerkte er. »Etwas Ähnliches habe ich noch nirgends gesehen.«
»Ja, sie ist einmalig in jeder Beziehung«, stimme ihm der Kurier zu. Er steuerte einen großen Kai an, an dem schon einige Schiffe lagen.
»Wir müssen uns beim Zollamt anmelden«, sagte er.
Martin entdeckte immer mehr Details in dem dreidimensionalen Durcheinander der Stadt. Kleine Dampfkopter, die geschickt unter den Brücken durchflogen, und sogar einen ähnlichen Gleiter, wie sie ihn auf ihrer Flucht von Fort Tesla benutzt hatten. Er schien immer in gleicher Höhe über der Stadt zu kreisen. Dort oben führten große Rohre aus der Stadt hinaus und direkt in die Felswand auf der rechten Seite hinein. Ob dort die Abgase durchgeleitet wurden? Oder setzte sich die Stadt gar im Fels drin fort, wie es bei Stahldorf der Fall war? Stonehenge füllte die ganze Breite des Grabens aus. Wer weiter ins Tal hinunter wollte, der musste durch die Stadt hindurch, und wer hinauf nach Tiffany unterwegs war, der musste über den Giftsee fahren oder die Eisenbahn im Untergrund benutzen. Doch dieser Weg war jetzt durch die Schremp und die mechanischen Rebellen blockiert, wie er wusste.
Als sie am Kai des Zolls anlegten, wurde Martin aus seinen Gedanken gerissen. Drei Uniformierte kamen an Bord.
In ihren schwarzen Uniformen mit den polierten Messingknöpfen und den goldenen Epauletten sahen sie genau gleich aus, wie die Zöllner der Schuldengaleere, die sie kontrolliert hatten. Auch ihre Kopfbedeckungen waren gleich: Geformt wie Schiffskörper und mit roten Streifen versehen. Alle drei Männer trugen Bärte und hatten Goggles aufgesetzt, sodass Martin ihre Augen nicht sehen konnte. Außer Degen trugen sie keine sichtbaren Waffen.
»Kurier, wie viele Passagiere hast du an Bord?«, fragte einer der Zöllner. Wahrscheinlich der Chef, vermutete Martin, der Mann hatte eine Reihe roter Abzeichen an der Uniform.
»Zwei Passagiere und wir haben uns bereits verzollt.«
»Dann möchte ich Ihre Scheiben sehen!« Der Zöllner wandte seinen Kopf zu Eliane, die an Martins Seite stand, und sagte schroff: »Waffen sind in Stonehenge nicht erlaubt, sie müssen auf dem Schiff bleiben.« Er hatte offenbar die große mehrläufige Pistole bemerkt, die Eliane am Gürtel unter dem offenen Mantel trug.
Als sie ihm ihre Zollscheiben zeigten, reichte er sie an seine Begleiter
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