Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
wollten erst mal unseren Rollentausch ausleben. Kein Ort schien uns dazu besser geeignet als die verlassene Unterstadt.«
»Aber wieso hast du dann Alexandra an die Schremp verkauft?«
»Sie wollte es so. Das sei der ultimative Kick, meinte sie: als Sklavin an blutsaugende Monster verkauft zu werden, völlig ausgeliefert, dem Tod ins Auge zu schauen, beziehungsweise in sechs Augen.«
»Das verstehe, wer will.« Martin schüttelte den Kopf.
»Ich kann das nachvollziehen«, erklärte die Kommandantin. »Viele Außenweltler wandeln sich auf Tiffany. Es kommen dann Charakterzüge und Eigenschaften zum Vorschein, die vorher im Verborgenen lagen.«
Martin fragte sich im Stillen, ob er sich auch schon verändert hatte. Doch er kam zu keinem eindeutigen Schluss. Vielleicht konnte man den eigenen Wandel nicht so gut wahrnehmen.
»Es ist Zeit, dass ich Sie verlasse«, erklärte die Kommandantin. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. Sie erhob sich vom Tisch und band ihr langes blondes Haar zu einem kunstvollen Knoten. »Ich muss nach Stonehenge.«
»Wie wollen Sie denn dorthin gelangen?«, fragte Thomas. »Der Flieger ist kaputt und die Insel ist gestrandet.«
»Johann Neumann hat mit verschiedenen Maschinen experimentiert und er war immer von der Eisebene fasziniert. Ich denke, ich werde in seinem Nachlass ein passendes Transportmittel finden.«
»Was geschieht mit uns?«, fragte Martin. »Nehmen Sie uns mit?«
»Wenn Sie wollen. Doch haben Sie nicht erwähnt, dass Sie auf dem Weg nach Orb sind?«
»Genau, wir wollen nicht nach Stonehenge zurück. Ich muss so schnell wie möglich nach Orb«, erklärte Eliane.
»Ich habe vom Flieger aus eine Linie gesehen. Es muss das Trassee des Eisexpresses sein«, sagte Thomas. »Es liegt nicht weit weg von hier und ich denke, wir können es erreichen.«
»Der Eisexpress? Eine Eisenbahn in dieser Schneewüste?«, fragte Martin.
»So ähnlich«, entgegnete Eliane. »Wenn es tatsächlich der Eisexpress ist, dann müssen wir ihn erreichen. Es gibt keinen schnelleren Weg nach Orb.«
»Gut, ich bin dabei«, erklärte Thomas. »Alexandria wird sicher nach Stonehenge zurückkehren. Darf ich Sie bitten, Milady, ihr diesen Brief zu überreichen?« Er kramte einen beigen Umschlag aus seiner Manteltasche und übergab ihn der Kommandantin.
»Das werde ich gerne für Sie tun, mein Herr. Und nun werde ich mich nach einem Gefährt umsehen.«
Sie drückte allen die Hand und wollte gerade dem Ausgang zustreben, da sagte Martin:
»Milady, ich habe auch noch eine Bitte.«
»Nur zu, junger Herr. Wennich sie erfüllen kann, werde ich es tun.«
»Meine Mutter, das heißt, eigentlich meine Stiefmutter, Isabelle Dampfbusch, befindet sich vermutlich auch in Stonehenge. Bitte richten Sie ihr meine Grüße aus und sagen Sie ihr, es gehe mir gut. Sagen Sie ihr auch, dass ich nach Orb gehe. Ich hoffe, sie kommt nach und wir können uns dort treffen. Ich vermisse sie.«
»Das werde ich gerne für Sie tun. Einem Dampfbusch würde ich nie eine Bitte ausschlagen.«
Als die Kommandantin gegangen war, blieben Eliane, Martin und Thomas noch eine Weile sitzen. Der mechanische Kellner servierte Süßigkeiten und Kaffee, der sich in nichts von irdischem Kaffee unterschied.
»Von wo aus fährt der Eisexpress nach Orb und hält er bei einer Zwischenstation?«, wollte Martin wissen.
»Er fährt von Victoria aus«, erklärte Thomas.
»Victoria? Von diesem Ort habe ich noch nicht gehört.«
»Nun, dann kann ein wenig Nachhilfe in Geografie nicht schaden«, grinste Thomas. Tiffany kennst du ja bereits. Dort bist du gewissermaßen auf die Welt gekommen.« Bei diesen Worten lachte Eliane schallend.
»Oberhalb Tiffanys gibt es nichts Erwähnenswertes, der Graben verengt sich und endet nach zwanzig Meilen. Er läuft dann in einer unzugänglichen Felsschlucht aus. Unterhalb Tiffanys wird der Graben breiter und fruchtbare Ackergebiete werden von Wäldern unterbrochen, die in der Anfangsphase der Besiedlung arg dezimiert und später wieder aufgeforstet wurden. Dann erstreckt sich der Giftsee bis zu Stonehenge. Weiter unten – wir sagen unten, weil der Graben immer tiefer wird – erstreckt sich ein dunkler Wald bis zum Ende des Grabens. Dunkel ist der Wald, weil die Bäume dort Höhen von hundert Metern und mehr erreichen. Mitten in diesem Wald liegt Victoria. Die Stadt wurde von Charles Parsons gegründet, dem Erfinder der Dampfturbine. Sie wurde aber nicht in den Wald gebaut, sondern in die Felswand auf der
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