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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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unser Zug fährt so schnell nach Petuschki, so schön ist es in Petuschki... I-i-i-i-i, wie betrunken der Opa ist, der gute Opa »So, so. Karussell wollt ihr fahren, sagst du ...«
    »Ja.«
    »Vielleicht doch nicht Karussell...?«
    »Doch, Karussell«, bestätigte Mitritsch noch einmal mit der gleichen verängstigten Stimme, wobei das Wasser aus seinen Augen tropfte und tropfte ...
    »Sag mal, Mitritsch, was hast du hier gemacht, solange ich auf der Plattform war? Solange ich auf der Plattform meinen Gedanken nachhing? Uber meine Gefühle nachdachte? Meine Gefühle zur Geliebten? Na? Sag mir das doch mal
    Mitritsch rührte sich nicht, nur seine Augen fingen an, unruhig hin und her zu wandern.
    »Ich? Ich habe nichts gemacht. Ich wollte nur etwas Kompott essen. Kompott mit Weißbrot »Kompott mit Weißbrot?«
    »Ja, Kompott. Mit Weißbrot.«
    »Wunderbar. Dann ist ja alles klar: ich stehe auf der Plattform und hänge meinen Gedanken nach, und unterdessen sucht ihr auf meinem Platz etwas Kompott mit Weißbrot. Und nachdem ihr kein Kompott findet...« Der Opa hielt es als erster nicht mehr aus und begann zu schluchzen. Dann fiel auch der Enkel ein. Seine Oberlippe fiel nach unten bis zum Nabel, wie beim Pianisten die Haare ... Beide weinten ...
    »Ich verstehe euch, ja. Ich kann alles verstehen, wenn ich verzeihen will... Ich habe eine Seele, die so groß ist wie der Bauch des Trojanischen Pferdes, da läßt sich alles unterbringen. Ich verzeihe alles, wenn ich verstehen will. Und ich verstehe... Ihr wolltet ganz einfach Kompott mit Weißbrot. Aber auf meinem Platz findet ihr weder das eine noch das andere. Und so seid ihr einfach gezwungen, das zu nehmen, was ihr findet, als Ersatz für das, was ihr wolltet
    Meine Beweislast hatte sie erdrückt. Sie hielten sich die Hände vors Gesicht, beide, und schaukelten reuevoll hin und her im Takt zu meinen Beschuldigungen.
    »Ihr erinnert mich an einen Bekannten in Petuschki. Der trank auch nur Geschnorrtes und Geklautes. Er mopste sich zum Beispiel eine Flasche Eau de Cologne in der Apotheke, verzog sich in die Bahnhofstoilette und trank es heimlich, still und leise aus. »Brüderschaft trinken‹, nannte er das. Er war davon überzeugt, daß das tatsächlich »Brüderschaft trinken‹ war. Er starb schließlich in seiner Verblendung ... Ihr habt euch also auch für »Brüderschaft trinken‹ entschlossen
    Sie schaukelten weiter vor sich hin und weinten. Des Enkels Schultern bebten vor Kummer.
    »Genug der Tränen. Wenn ich verstehen will, bringe ich alles unter. Das, was ich auf den Schultern trage, ist kein Kopf, sondern ein ›Haus der offenen Tür‹. Wenn ihr wollt, kann ich euch noch einen anbieten. Ihr habt schon fünfzig Gramm gehabt, hier - ich kann euch noch mal fünfzig einschenken...«
    In diesem Augenblick kam jemand von hinten an uns heran und sagte: »Ich möchte auch mit Ihnen trinken.« Alle sahen gleichzeitig auf. Es war ein Mann mit schwarzem Schnurrbart, im Jackett und mit brauner Baskenmütze. »I-i-i-i-i«, kreischte der junge Mitritsch, »schau mal, der Onkel, was für ein schlauer Onkel Der Schnurrbärtige unterbrach ihn mit strafendem Blick. »Ich bin überhaupt nicht schlau. Ich stehle nicht, wie
    manche. Ich stehle fremden Leuten keine lebensnotwendigen Dinge. Ich habe meinen eigenen mitgebracht — hier
    Er stellte mir eine Flasche Stolitschnaja auf das Klappbrett unter dem Fenster. »Trinken Sie einen von meinem?« fragte er mich. Ich rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen.
    »Nein, später trinke ich vielleicht einen von Ihrem, aber im Moment ziehe ich meinen eigenen vor. Den ›Kuß der Tante Klara‹.«
    »Was für einen Kuß?«
    »Den ›Kuß der Tante Klara‹.«
    Wir schenkten uns ein, jeder das seine. Der Opa und der Enkel streckten mir beide ihr Gefäß entgegen. Sie hatten es bereitgehalten, lange bevor ich sie zu mir herangewinkt hatte. Der Opa hatte eine leere Flasche, die ich sofort wiedererkannte. Und der Enkel holte irgendwo zwischen den Beinen eine ganze Schüssel hervor.
    Ich schenkte ihnen soviel ein, wie versprochen. Sie lachten.
    »Auf Brüderschaft, Kinder?«
    »Auf Brüderschaft.«
    Alle tranken, den Kopf nach hinten geworfen, wie Pianisten. »Der Zug hält nicht in Jessino. Haltestellen in allen Ortschaften außer Jessino.«

Jessino — Frjasewo
    Es begann ein Schlürfen und Raunen. Als hätte der ewig trinkende Pianist nun endlich alles ausgetrunken und, versunken in seine Mähne, die Etude »Waldesrauschen« in cis-Moll

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