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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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dann nicht. Er hätte sich zusammengerissen und einfach nichts getrunken. Er hätte gesagt: Ich trinke keinen Tropfen.«
    Der Schnurrbärtige wurde ganz still und schwermütig. Sein ganzes System war unter den Augen des Publikums zusammengebrochen, ein so wunderbar aufgebautes System brillanter, zündender Ideen.
    Hilf ihm, Jerofejew, dachte ich. Hilf dem armen Kerl. Gib eine Allegorie oder irgendwas ähnliches von dir ...
    »Sie behaupten also, der Geheimrat Goethe hätte keinen einzigen Tropfen getrunken?« Ich drehte mich zum Dekabristen um. »Wissen Sie auch, warum er nicht getrunken hat? Was war es, was ihn dazu bewogen hat, nicht zu trinken? Alle aufrechten Menschen haben getrunken, und er nicht. Warum? Das ist ganz einfach: Nehmen wir unseren Zug nach Petuschki. Warum hält er überall, nur nicht in Jessino? Warum könnte er nicht auch in Jessino halten? Aber nein, er rast daran vorbei. Das kommt daher, daß in Jessino keine Passagiere sind, die steigen alle in Chrapunowo oder Frjasewo zu. Ja. Sie legen den ganzen Weg von Jessino bis Chrapunowo oder Frjasewo zu Fuß zurück und steigen dort ein. Und warum? Weil der Zug in Jessino durchrauscht, ohne zu halten. So auch Johann Wolfgang von Goethe, der alte Querkopf. Glauben Sie vielleicht, der hätte nicht gern einen zur Brust genommen? Und ob! Aber um nicht selbst zu versumpfen, hat er statt dessen seine ganzen handelnden Personen trinken lassen. Nehmen Sie zum Beispiel den Faust: wer säuft da nicht? Alle saufen. Faust säuft und wird dabei immer jünger, Siebel säuft und geht auf den Faust los, der Mephisto tut auch nichts anderes als saufen; säuft, bietet den Studenten an und singt das Lied vom König und dem Floh. Sie werden fragen, wozu der Geheimrat Goethe das alles nötig hatte. Darauf kann ich Ihnen nur eins antworten: Warum hat er den Werther sich eine Kugel durch den Kopf jagen lassen? Weil er, und dafür gibt es Beweise, selbst an der Grenze zum Selbstmord war, und um sich nicht selbst zu versündigen, hat er es an seiner Stelle den Werther tun lassen. Verstehen Sie? Er blieb am Leben, aber so, als hätte er Selbstmord begangen. Und damitwar er voll und ganz zufrieden. Doch das ist schlimmer als Selbstmord. Das ist Feigheit und Egoismus und darüber hinaus schöpferische Niederträchtigkeit ...
    Und genauso, wie er sich erschossen hat, hat er auch gesoffen, Ihr Geheimrat. Mephisto säuft, und er freut sich, der Hundesohn. Faust säuft, und er kriegt den Rausch, der alte Bock. Mit mir hat auf der Baustelle ein gewisser Kolja gearbeitet, der war genauso: selbst trinkt er nichts vor Angst, daß ihm beim ersten Schluck die Sicherung durchbrennt und daß er dann mit dem Schlucken wochen- und monatelang nicht mehr aufhören kann. Aber uns zwingt er geradezu zum Trinken. Schenkt uns ein, grunzt und frohlockt, der Drecksack, der dreckige... So auch Ihr vielgerühmter Johann Wolfgang von Goethe. Schiller schenkt ihm ein, und er lehnt ab - von wegen! Ein Alkoholiker war er, Ihr Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, ein Trunkenbold! Dem zitterten nur so die Hände
    »Da haben wir's ...«, der Dekabrist und der Schnurrbärtige strahlten mich glücklich an. Das schöne System war wiederhergestellt und mit ihm die gute Laune. Der Dekabrist holte mit ausschweifender Geste eine Flasche Pfefferwodka aus seinem Overcoat und stellte sie dem Schnurrbärtigen zu Füßen. Der Schnurrbärtige holte seine Flasche Stolitschnaja hervor. Alle rieben sich die Hände, merkwürdig erregt...
    Sie gossen mir ein — mehr als allen anderen. Dem alten Mitritsch gossen sie auch ein und gaben auch dem jungen ein Glas. Der drückte es glücklich mit dem rechten Oberschenkel an die linke Brustwarze, wobei ihm aus beiden Nasenlöchern die Tränen kamen ...
    »Also, auf das Wohl des Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe!«

Frjasewo — Kilometer 61
    »Ja, auf das Wohl des Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe.«
    Als ich mein Glas geleert hatte, merkte ich, daß mir über alle Maßen blümerant wurde und allen anderen mit mir...
    »Erlauben Sie mir eine kleine Frage«, sagte der Schnurrbärtige durch das belegte Brot in seinem Schnurrbart hindurch. Er wandte sich wieder ausschließlich an mich. »Sagen Sie, warum haben Sie so traurige Augen? Wie kann man traurig sein, wenn man solche Erkenntnisse hat! Man könnte meinen, Sie hätten seit dem Morgen nichts getrunken!«
    Ich war fast beleidigt:
    »Was heißt, nichts getrunken? Und wieso traurige Augen? Die sind überhaupt nicht traurig,

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