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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Wohnung hatte ein großes Loch in der Decke. Die andere Wohnung ein Stockwerk höher hatte logischerweise dasselbe Loch im Fußboden. Wir überlegten krampfhaft, welche der beiden Wohnungen
    vorteilhafter wäre: eine ohne heilen Boden oder eine ohne Decke. Ich als bodenständiger Mensch war der Meinung, erst ein Fußboden mache eine Ruine zu einer gemütlichen Wohnung. Mein etwas verträumter Freund Andrej meinte jedoch, ein Loch in der Decke würde sein Leben zu einem Albtraum machen.
    Ohne die Unterstützung des Vatikans hätten wir dieses Problem nicht lösen können. Zum Glück trafen wir in einer Kneipe in der Schliemannstraße auf eine Gruppe von Landsleuten, die sich »Papstkinder« nannten und bereits ein ganzes Haus in der Lychener Straße in ihre Gewalt gebracht hatten. Schon am nächsten Tag zogen wir aus dem Ausländerheim aus und bei ihnen ein.
    Die Papstkinder bildeten Anfang der Neunzigerjahre eine eigenständige Migrationswelle. Sie war natürlich viel kleiner als die anderen aus Osteuropa und fiel deswegen nicht besonders auf. Mit mehreren Leuten aus dieser merkwürdigen Bewegung habe ich heute noch Kontakt. Damals beabsichtigte der Papst, Polen zu besuchen. Sofort breitete sich eine große Hysterie unter den zahlreichen Katholiken in Russland, Weißrussland und der Ukraine aus. Sie alle wollten den Papst sehen. Tausende von Pilgern versammelten sich entlang der russischpolnischen Grenze und wurden dort von den Grenzpatrouillen angehalten. Für die Einreise nach Polen brauchten russische Staatsbürger damals ein Visum und eine schriftliche Einladung. Der Papst hieß zwar alle Pilger willkommen, tat dies aber leider nur mündlich.
    Die Situation an der Grenze spitzte sich immer mehr zu. Vielen Gläubigen an der Grenze ging es nicht gut. Sie mussten unter freiem Himmel übernachten, hatten kaum zu essen, waren erschöpft und verzweifelt, gingen aber nicht nach Hause zurück. Beide Regierungen rechneten mit schlimmen Auseinandersetzungen zwischen den Pilgern und dem Grenzschutz. Schließlich erließen sie eine Sonderregelung für die Gläubigen, die jedoch nur drei Tage Gültigkeit hatte: Trotz fehlender Einladung durften sich die Pilger mit Namen und Passnummern in spezielle Listen eintragen. Danach konnten sie in Gruppen dem Papst entgegengehen und ihn begrüßen, dann mussten sie schnellstens wieder zurück. Aber drei Tage lang stand ihnen die Grenze praktisch offen. Einige junge Leute nutzten diese Gelegenheit, um ihre Heimat für immer zu verlassen. Die ganzen auf Listen erfassten Gruppen lösten sich sofort hinter der polnischen Grenze auf und verschwanden in der großen weiten Welt. Der Papst tourte ein paar Tage durch Polen, und überall wurde sein Erscheinen vom Volk mit großer Begeisterung aufgenommen. Danach fuhr er in den Vatikan zurück. Die Pilger, die aus ganz Europa nach Polen gekommen waren, fuhren ebenfalls wieder nach Hause: nach Deutschland, Frankreich und Spanien. Die Russen fuhren einfach mit ihnen mit. Die Papstkinder, die wir in der Kneipe an der Schliemannstraße kennen gelernt hatten, waren auf diese Weise nach Berlin gekommen. Dort besetzten sie ein Haus und nahmen Kontakt zu sowjetischen Militärtruppen in Potsdam auf. Diese verfügten noch über einen eigenen Schlachthof und produzierten auf ihrem Kasernengelände tolle Würste, die sie jedoch nicht an die deutsche Bevölkerung verkaufen durften. Die Papstkinder schlossen nun mit den Potsdamer Offizieren einen Handelsvertrag, auf dessen Grundlage sie die russische Wurst an den deutschen Mann brachten. Als Wurstdealer machten sie bald größere Umsätze als ihre Nachbarn in der Lychener Straße, die nur mit Haschisch handelten.
    Auch ich kaufte bei den Papstkindern mehrmals große Mengen Wurst ein, obwohl Andrej mich mit immer neuen haarsträubenden Theorien terrorisierte: Er behauptete, die Würste wären aus Jungsoldaten gemacht, deswegen wären sie auch so fettarm. Es gab damals immer wieder Gerüchte, dass Soldaten aus den sowjetischen Militärtruppen einfach verschwanden, was Andrej in seiner Theorie bestätigte, die Krieger seien im Fleischwolf gelandet. Ich ließ mir trotzdem nicht den Appetit verderben.
    Die Papstkinder waren allesamt sehr aktive, abenteuerliche Typen. Sie hatten die Reisefreiheit für sich entdeckt und konnten nun nicht genug davon kriegen. Ich kannte einige, die es bis nach Südafrika geschafft hatten. Auch in einem französischen Kloster waren eine Zeit lang mehrere Zellen von ihnen belegt. Mein

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