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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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werde ich meinen Körper verkaufen, das schwöre ich dir«, meinte sie zornig und klopfte sich zur Bekräftigung auf die Schenkel.
    Korchagin hatte schon vorher bemerkt, dass die Einheimischen seine Freundin sehr interessiert betrachteten. Sie war eine etwas mollige junge Frau mit sehr beweglichen Körperteilen. Die Franzosen konzentrierten ihre Blicke immer wieder auf Maschas Hüften. In ihren grünen zerrissenen Strümpfen sah sie besonders verführerisch aus. Die Einheimischen warteten wahrscheinlich nur darauf, dass sie voller Verzweiflung anfing, ihren Körper zu verkaufen. Dann werden sie bestimmt Schlange stehen, vermutete Korchagin.
    Nun sah er sich gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Mascha ahnte, dass ihr Mann einen tiefen inneren Konflikt mit sich austrug, und schwieg.
    »Ich werde singen«, beschloss Korchagin nach einer langen Pause.
    »Aber du kannst doch gar nicht singen«, erwiderte Mascha. »Wir kennen uns so lange, und ich habe dich noch nie singen gehört.«
    »Dann wirst du deinen Mann bald von einer völlig neuen Seite kennen lernen«, meinte Korchagin, »ich werde singen, ich kann das.« Sie gingen zu einer Parkbank, um eine kurze Probe abzuhalten. Das Repertoire von Korchagin erwies sich als nicht besonders groß. Genau genommen bestand es nur aus zwei Liedern, die er aber auswendig und bis zum Ende konnte: »Die Heuschrecke in der Streichholzschachtel« - ein Lied aus Korchagins Kindergartenzeit und »Neue Horizonte« - ein Lied aus seiner Zeit als Komsomolze. Das Lied war einst entstanden, um junge Leute auf die Baustellen der neuen Eisenbahnlinien zu locken. Mit diesem Lied waren die Studenten in den Achtzigerjahren nach Sibirien gefahren, um ihren Beitrag zum Aufbau der Baikal-Amur-Magistrale zu leisten. Nun sollten die »Neuen Horizonte« möglichst viele Franzosen motivieren, sich von ein paar Münzen zu verabschieden. Mascha war nicht besonders zuversichtlich. Korchagin sang erst einmal mit leiser Stimme nur für sie, zweimal hintereinander. Es klang bescheuert und Misstrauen erregend.
    »Sie werden uns einsperren«, befürchtete Mascha und lehnte das Lied ab. Es blieb also nur noch »Die Heuschrecke in der Streichholzschachtel«, auch nicht gerade die allererste Sahne der russischen Folklore, immerhin war das Lied seinerzeit für Dreijährige geschrieben worden. Aber wer sollte ihnen hier auf die Schliche kommen, in dieser fremden Stadt, dreitausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt? Was wissen die hier schon über die russischen Kindergärten und deren Liedgut! Mascha zerrte aus einem Abfallkorb neben der Bank einen Pappteller und wischte ihn im Gras sauber. Sie wählten nur solche Kneipen, in denen die Gäste gerade zu essen anfingen.
    Korchagin stellte sich in Positur und legte los. Schnell merkte er, dass sein Lied zu lang für solche Auftritte war, und reduzierte es auf die ersten zwei Strophen:
    Heuschrecke in der Streichholzschachtel, Ich lasse dich frei;
    Heuschrecke in der Streichholzschachtel, Fliege bis ins All;
    Heuschrecke in der Streichholzschachtel, Spring ins grüne Feld;
    Heuschrecke in der Streichholzschachtel, Deine Heimat ist die ganze Welt.
    Und das fünfzehnmal hintereinander. Die Franzosen waren begeistert. Jedes Mal, wenn Korchagin aufhörte und Mascha mit dem Pappteller in der Hand zwischen den Tischen manövrierte, zückten sie ihre prallen Brieftaschen. Mascha sagte jedes Mal lächelnd: »Merci beaucoup.« Korchagin hatte den schweren Verdacht, dass die Franzosen Mascha auch ohne seinen Gesang Geld geben würden, nur um das »Merci beaucoup« von ihr zu hören.
    Nach zwei Stunden Singen hatten die beiden genug Geld, um sich etwas zu essen leisten zu können. In einem arabischen Imbiss bekamen sie für dreißig Francs eine heiße scharfe Suppe und massenweise Fladenbrot.
    »Ich hätte nie gedacht, dass Singen so ekelhaft sein kann«, seufzte Korchagin.
    »Das hängt vom Repertoire ab«, widersprach Mascha.
    Inzwischen dämmerte es, und unsere Freunde bereiteten ihren nächsten Coup vor: den Überfall des Brunnens im Jardin du Luxembourg.
    »Wenn es uns gelingt, zumindest einen Teil der Münzen rauszuholen, können wir noch ein paar Wochen länger in Paris Besichtigungsrunden drehen, und du wirst nie mehr im Leben singen müssen«, meinte Mascha. Korchagin hatte bereits als Straßensänger sämtliche Hemmungen überwinden müssen und war nun zu allem bereit. Ihr Plan war einfach: Sie wollten nachts, wenn alle Touristen weg waren, über den Zaun klettern.

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