Die Reise nach Trulala
alter Moskauer Freund Alex gehörte zum Beispiel dazu. Zuerst verbrachte er mehrere Wochen in einem katholischen Kloster vierzig Kilometer von Paris entfernt, dann zog er als Untermieter bei einem französischen Seemann am Porte de Versaille ein. Der Seemann war oft unterwegs und hatte eine Sozialwohnung in einem Haus, in dem sonst ausschließlich pensionierte Polizisten lebten. Sie alle hielten Alex für einen russischen Spion und machten aus lauter Langeweile jeden Tag Jagd auf ihn. Doch er hatte zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu befürchten. Als einer der wenigen Russen hatte er das Glück, dass man ihm in Frankreich politisches Asyl gewährte.
In Moskau hatte er als Maler gut gelebt und eine neue Schule gegründet, den so genannten antisozialistischen Realismus - eine Mischung aus Realismus und Politsatire. Auf seinem berühmtesten Bild las ein Braunbär die Zeitung »Prawda«, während draußen vor seinem Haus ein langhaariger Mann gekreuzigt wurde. Oder er malte ein im Eis stecken gebliebenes Schiff, das den stolzen Namen »UdSSR« trug. In Moskau war Alex prominent. Er wurde als Andersdenkender zwar ein bisschen von der Staatsmacht verfolgt, durfte seine Bilder nicht ausstellen und wurde sogar immer mal wieder von irgendwelchen Typen, die er für Agenten des KGB hielt, ordentlich verprügelt, aber im Großen und Ganzen ging es Alex gut. Der sozialistische Staat reagierte in den Achtzigerjahren nachdenklicher und milder auf politische Provokateure als früher. Nur wenn es ums Geld ging, zeigte er Härte, alles andere interessierte ihn nicht mehr so sehr.
Alex war ein großer dicker Mann um die dreißig, seine glatt gekämmten Haare reichten ihm bis zum Hintern, sein Bart bis zum Bauchnabel. Er sah aus wie ein Mann der Kirche. Als autoritärer Mensch war Alex zudem der Meinung, alle müssten ihm zuhören. Diese Haltung brachte ihm zwar bei seinen Künstlerkollegen Respekt ein, kam aber bei den Frauen in der Szene extrem schlecht an. Alle seine Freundinnen verließen ihn nach zwei bis drei Wochen wieder. Alex rauchte nicht und trank nicht, er nahm auch keine Drogen und forderte von seinen Mitmenschen, sie sollten genauso leben wie er. Vielleicht wurde seine erste Liebe gerade deswegen drogensüchtig und brannte mit einem Drogendealer nach Mittelasien durch. Seine zweite Liebe, die er sogar geschlagen haben soll, um sie vom Rauchen abzubringen, fing an zu trinken. Alex litt unter Einsamkeit. Alle anderen Künstler aus seinem Kreis hatten stets ein gut aussehendes Mädchen an ihrer Seite - ein Moskauer Maler ohne mindestens eine Frau, die ihn vergötterte, war nur ein halber Maler. Alex suchte krampfhaft nach seinem Glück.
Eines Tages lernte er eine Gymnasiastin kennen.
Sie trafen sich auf einem Konzert der russischen Kultband Aquarium. Anna war, wie viele andere Mädchen aus der Szene, in Boris, den Sänger der Gruppe, verliebt. Leichten Herzens sagte Alex, der Sänger von Aquarium sei sein bester Freund, und immer wenn er ein neues Lied schreibe, frage er ihn, ob das Lied gut sei. Die naive Anna kaufte ihm das ab. Die beiden kamen einander näher. Der Held Boris sprang auf der großen Bühne des Kulturklubs herum und besang die zahlreichen Wunder der beiden russischen Hauptstädte, er besang die Heiligen ohne Nimbus und die Frauen ohne Gesichter. Alex schrie Anna währenddessen ins Ohr, dass eine kulturelle Revolution notwendig sei und man mit dem Aufbau eines neuen Weltverständnisses beginnen müsse.
Dies alles verdrehte dem Mädchen völlig den Kopf. Schon kurz darauf machte ihr Alex einen Heiratsantrag. Anna wurde zu der Frau an seiner Seite, ihre Eltern verfluchten und verbannten sie dafür. Alex war überglücklich. Seine junge Frau war schweigsam, sah ihn mit verliebten Augen an und hörte ihm immer aufmerksam zu. Sie trank nicht und rauchte nicht. Wenn ihr Mann nicht zu Hause war, hörte sie die Kassetten der Band Aquarium. Doch mit Anna kam ein unbekanntes Gefühl in Alex' Leben: Zum ersten Mal wurde er seiner selbst unsicher. Das Mädchen war sein plötzlich Realität gewordener Traum von einem »reinen Menschen«. Er malte keine Bilder mit politischen Botschaften mehr, er malte nur noch sie: Anna am See, Anna auf einem Pferd, Anna auf einem Boot, Anna als Akt, als Halbakt...
Alex bekam panische Angst, dass sie ihn irgendwann verlassen würde; einfach so, aus Neugier, um die Welt kennen zu lernen. Er brach mit allen Freunden, ging nicht mehr auf Partys und mauerte seine junge Ehefrau geradezu in
Weitere Kostenlose Bücher