Die Reise nach Trulala
wirkte er nur noch gefährlicher.
»Viktor Josefowitsch!«, rief der Soziologe laut über den Zaun zu dem Hund. »Ich habe ein paar Wissenschaftler aus Deutschland mitgebracht, sie sind extra hierher gekommen, um mit Ihnen zu reden.«
Nichts bewegte sich im Haus. Auch der Hund im Garten verlor jegliches Interesse an den Gästen. Er legte seine Schnauze auf die Pfoten und schloss die Augen. Der Soziologe wollte aber nicht aufgeben.
»Viktor Josefowitsch«, rief er weiter. »Lassen Sie uns rein, um Ihres Vaters willen. Wir sind seine größten Fans.«
Nach fünfzehn Minuten ging die Tür auf, und ein alter Mann erschien auf der Treppe. Langsam durchquerte er den Garten und lächelte verlegen.
»Sind Sie schon lange hier? Sie müssen bitte entschuldigen. Ich war eingeschlafen. Bei dieser Hitze werde ich nach dem Mittagessen immer gleich müde. Kommen Sie bitte herein.«
Der Hund öffnete die Augen und seufzte. Martin und Anke standen sprachlos vor dem Gartentor und trauten ihren Augen nicht. Vor ihnen stand Beuys. Er war alt und dick, hatte eine Vollglatze und trug eine altmodische Brille. Er war angezogen wie ein typischer Dorfbewohner in Rente, aber es war zweifellos Joseph Beuys. Dieses unverwechselbare Gesicht: die lachenden, tief sitzenden Augen, die Nase, der Mund. Er trug zwar keinen Filzhut, dafür waren seine Pantoffeln aus diesem Stoff gewalkt.
Der Wissenschaftler schubste seine deutschen Kollegen in den Garten, und Viktor Josefowitsch machte die Gartentür wieder zu. Unter einem großen Apfelbaum in der Sommerküche wurde ein Tisch gedeckt. Viktor Josefowitsch brachte einen Eimer kleiner gelber Äpfel zum Tee und forderte seine Gäste auf, zuzulangen. Er habe eine viel zu reiche Ernte dieses Jahr und wisse nicht, wohin damit. Die Äpfel zu dieser Jahreszeit zu verkaufen, wäre genauso sinnlos, als würde man in einem Feld voller Blumen stehen und Sträuße feilbieten.
Nach und nach erzählte er den Gästen Geschichten aus seinem Leben. Der deutsche Flieger hatte einige Tage im Haus seiner Großeltern verbracht. Der Krieg war noch lange nicht zu Ende, aber im Dorf waren keine Truppen stationiert. Seine Mutter war damals noch sehr jung gewesen, zwanzig, vielleicht sogar jünger, er wusste es nicht mehr. Sie wurde zusammen mit ihrer Familie 1945 deportiert und war nun schon seit über zwanzig Jahren tot. Sie hatte ihm die Geschichte von seinem Vater ungern erzählt, es gab da auch nicht viel zu erzählen. Als jüngstes Familienmitglied hatte sie damals auf den Soldaten aufzupassen, der Josef hieß. Sie brachte ihm Wasser, Honig und Brot. Er lag da unter einer Filzdecke und lächelte freundlich. Nach vier Tagen wurde der Soldat von einer Patrouille abgeholt. Neun Monate später kam Viktor Josefowitsch zur Welt, und die Großeltern sprachen nicht mehr mit ihrer Tochter.
Sie zog mit dem kleinen Viktor nach Jalta, wo er später zur Schule ging. In Stavropol besuchte er dann die Wirtschaftsakademie und arbeitete anschließend als Agronom in einem kleinen Dorf in Südrussland. 1976 wurde er zu Unrecht wegen illegalen Verkaufs von Volkseigentum zu einer Haftstrafe verurteilt. Er verbrachte zwei Jahre im Gefängnis. Eine Frau hatte er auch und zwei Kinder, die schon längst eigene Kinder hatten. Mit einem seiner Söhne stand er noch in Kontakt, seine Frau hatte ihn jedoch gleich nach seiner Verurteilung verlassen.
Nach der Entlassung kehrte er zurück auf die Krim, hier seien seine Wurzeln, seine Vorfahren seien hier beerdigt, und hier fühle er sich zu Haus, erzählte er. Von seinem Vater wisse er nichts, außer dass er ein großer Künstler in Deutschland geworden sei. Das hätten ihm die Touristen erzählt. Aber was genau der Vater mache, davon wisse er nichts. Er hätte viele Leute aus Deutschland in den letzten zehn Jahren kennen gelernt, mit einigen stehe er sogar noch immer in Kontakt. Er bekomme Briefe aus Deutschland, auf Russisch, und arbeite jetzt an einem Buch über sein Leben.
Martin und seine Freunde hörten zu und aßen automatisch die kleinen sauren Äpfel aus dem Eimer, um den Gastgeber nicht zu beleidigen. Nach zwei Stunden wurde Viktor Josefowitsch unruhig.
»Es ist zwanzig vor sechs. In zehn Minuten kommt >Die Sklavin Isaura< im Fernsehen«, erklärte er den Gästen. Er verfolge diese Serie bereits seit drei Jahren, sie sei ein wichtiger Teil seines Lebens geworden. »Ich muss mich leider entschuldigen«, sagte Beuys junior. Die Audienz war zu Ende.
Zum Abschied gab Viktor Josefowitsch
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