Die Reise nach Trulala
sagte er Nein.
Aber viele andere unserer Bekannten nutzten ihre Reisefreiheit in vollem Ausmaß. Sie waren ständig in Bewegung und drehten ihre Runden in der Welt. Der eine fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China, lernte in Schanghai eine chinesische Frauenrockband kennen und tourte als männlicher Groupie mit ihr zusammen durch mehrere Provinzen, wobei er sie mehr und mehr für Punkmusik begeisterte. Ein anderer wurde in Afrika von einem Nashorn beim Fotografieren überrumpelt. Dieses kurze Abenteuer hinterließ tiefe Spuren in seinem Gedächtnis. Noch Jahre danach konnte er über nichts anderes reden und bekam von seinen Kollegen den Spitznamen »Nashorn«. Auf Partys war er gefürchtet: »Lass uns abhauen, ich kann seine Nashorngeschichte nicht mehr hören«, sagte jeder. Ein weiterer alter Freund von uns kam auf seinen Reisen sogar bis Nepal, wo er Kontakte zu einer maoistischen Terrorgruppe knüpfte, die gerade einen Putsch gegen den König plante.
Kurzum: Fast alle Leute in unserer Umgebung hatten viel zu erzählen. Nur Andrej und ich, die wir nicht über Leipzig und Moskau hinausgekommen waren, hatten nichts Große vorzuweisen. Und ich war auch nur einmal kurz nach der Wende in Hamburg gewesen. Dort wurde ich von den Einheimischen irrtümlicherweise ständig für einen Ostdeutschen gehalten. Sie dachten wahrscheinlich, dass alle Leute aus der DDR Schnurrbärte tragen und gebrochenes Deutsch mit russischem Akzent sprechen. Nur ein ehemaliger Magdeburger entlarvte mich sofort als Russen. Ich saß gerade in einer Kneipe allein am Tisch, als er mich in meiner Muttersprache begrüßte. Der Gestank einer sowjetischen Capirossi, die ich zufällig gerade angezündet hatte, hatte ihn an meinen Tisch gelockt. Anschließend erzählte er mir sein Leben: Er hatte sechs Jahre in der Sowjetunion studiert und war vor zehn Jahren aus der DDR geflüchtet. Jetzt wollte er unbedingt eine Capirossi rauchen - aus Nostalgie. Ich warnte ihn vor dem sowjetischen Tabak.
»So schlecht wie unsere Boston im Osten werden sie ja wohl nicht schmecken«, meinte er und steckte sich eine an. Schnell wurde ihm sein Fehler bewusst. Er schaffte die Zigarette nicht mal zur Hälfte. Vielleicht hatte er schon zu lange im Westen gelebt und war den sozialistischen Produkten völlig entwöhnt.
Außer in Hamburg war ich noch mehrmals in Dresden gewesen, und in Potsdam hatte ich einmal das Schloss Sanssouci besichtigt. Ansonsten trieb ich mich ständig in Berlin herum. Nicht selten mit Andrej.
Es war Hochsommer, und wir beide hatten nichts zu tun, also beschlossen wir, endlich ins Ausland zu fahren. Auf dem Weltatlas suchten wir nach dem nächstbesten Ziel westlich von Ostberlin. Polen kam nicht in Frage, vom Osten hatten wir genug gesehen. Das nächstbeste westliche Ausland war Dänemark: Bis Warnemünde konnte man n per Anhalter fahren, dann musste man eine Fähre nehmen und schließlich noch siebzig Kilometer Autobahn bis Kopenhagen überwinden. Wir wussten, dass in Kopenhagen viele Russen leben, dass wir dort also bestimmt Bekannte treffen würden.
Andrej nahm seine Gitarre mit, und ich stopfte meinen Rucksack mit Fleischkonserven voll, für alle Fälle. An der Autobahnraststätte »Drei Linden« in Berlin-Wannsee mussten wir nicht einmal zehn Minuten auf das erste Auto warten. Eine nette Dame, die nach Rostock wollte, nahm uns mit. Unsere Reise ging schneller als erwartet voran. Von Rostock fuhren wir mit dem Regionalexpress nach Warnemünde, wo schon eine Fähre auf uns wartete, die kurz davor war, das deutsche Ufer zu verlassen. Weder Andrej noch ich wussten, ob wir mit unseren Alienpässen für Staatenlose ein Visum für Dänemark bekommen würden und ob wir überhaupt eins brauchten. In Berlin hatten wir beschlossen, lieber nicht in der dänischen Botschaft nachzufragen und uns an der Grenze einfach überraschen zu lassen. Auf der Fähre war nichts von einer Grenzkontrolle zu sehen. Problemlos erhielten wir die Fahrkarten und setzten uns gut gelaunt an die Bar. Um uns herum trank eine Gruppe dicker rothaariger Männer Bier aus Dosen. Sie rülpsten laut, rauchten Prinz und unterhielten sich auf Dänisch. Nicht mal drei Stunden waren wir unterwegs gewesen und schon im Ausland!
Am nächsten Morgen um sechs Uhr landete unsere Fähre in Gedser, Dänemark. Die dänischen und auch einige deutsche Passagiere fuhren gleich mit ihren Autos weiter und verschwanden am Horizont. Wir wurden jedoch von einer Grenzkontrolle angehalten. Sie
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