Die Reise zum Ich
den Bereich des Trieblebens, dessen Existenz
die Patientin zum Nachteil der Entwicklung ihres Gefühlslebens nicht hatte wahrhaben wollen. So ist es kein Wunder, daß sie erst jetzt, nach Aufgabe ihres Widerstands einsieht, daß ihr
»kleiner Verstand« nur ein Teil ihres »Ich Bin« ist. DasTanzen
- eine spontane Bewegung, in der sich elementare Agressivität
und Sinnlichkeit verbinden und miteinander versöhnen - war
ihr größter Wunsch und zugleich ihr größtes Tabu. Das Tanzen
hätte sie befreit. Aber noch tanzte sie nicht. Sie erteilte sich nur
den Befehl dazu in dem Glauben, der Arzt habe es ihr suggeriert, (das heißt, sie projizierte ihr uneingestandenes Verlangen als Erwartungshaltung in die Außenwelt). Diese nicht abgeschlossene Situation wiederholt sich mehrmals. Eine halbe Stunde später zum Beispiel fordere ich sie auf, noch einmal das
Tier nachzuahmen, da mir scheint, daß ihr das noch nicht gelun-
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gen war, und diese Episode beschreibt sie drei Tage später wie
folgt:
»Ich stehe nun auf. Der Arzt hat mich um etwas gebeten.
Was war es nur? Ich soll tanzen? Zittern? Mir den Rhythmus
der Neger vergegenwärtigen? Oder das Kaktus-Tier nachahmen? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht wußte ich es auch damals nicht. Aber ich sehe mich vor einer Riesentrommel
stehen. Jenseits der Trommel sehe ich viele Neger sich im
Rhythmus der Trommel bewegen. Sie haben dicke Lippen,
weiß angestrichen, und Röcke aus weißen Streifen, die von
einem roten Gürtel herabhängen. Brust und Beine sind frei.
Ich schlage die Trommel mit aller Kraft, erst mit der Rechten, dann mit der Linken. In meinen Händen halte ich so etwas wie hölzerne Hämmer. Ich lasse das Trommeln und
gebe den Takt mit meinem Körper an. Ich möchte tanzen. Es
gelingt mir nicht recht. Ich versuche es noch einmal und kann
es nicht. Dann sehe ich zwischen den Negern Marias weißes
Gesicht. Sie lächelt. Ihr Ausdruck verändert sich, als ich sic
ansehe, sie beginnt laut zu lachen. Sie lacht mich aus, weil ich
nicht zu tanzen verstehe. In meinem Zorn werfe ich den
Hammer und töte jemanden damit, aber es ist mir gleich. Ein
Kontakt ist abgerissen. Der Doktor fordert mich auf, die
Szene noch einmal durchzugehen, aber ich bin dazu nicht in
der Lage. Ich setze mich hin, dann lege ich mich nieder. Der
Arzt spricht mit mir, doch kann ich mich nicht erinnern, was
er sagte. Ich weiß nur, daß ich nicht verstehen kann. Ich kann
nichts verstehen. Irgend etwas geht in mir vor.
Plötzlich werde ich mir bewußt, daß ich schon lange sexuelle
Erregung empfinde. Ich spreche das aus. Der Arzt sagt:
›Geben Sie dem nach. Spüren Sie es.« Und dann habe ich das
Gefühl, als ob mich jemand an den Beinen packt und sie
bewegt, ähnlich wie die Bewegungen des Geschlechtsakts. Es
kommt nicht zum Orgasmus - oder aber zu tausenden -
schwer zu beschreiben. Aber es hört nicht auf. Die Erregung
dauert an. Wieder sehe ich herrliche Landschaften, Sonnenuntergänge, Vegetation, das Meer, weite Wüstenbereiche und die Sonne als phantastischen Feuerball im Hintergrund.
Ich sagte: ›Wie schön!« Der Doktor hat mich gebeten, nicht
zu sagen, ob etwas schön oder häßlich sei, sondern es nur zu
beschreiben. Aber wie soll ich das fertig bringen, wenn es so
schön ist? Das ungeheure Gefühl des Seins, das Gefühl, das
die Vibrationen in meinem Fleisch hervorrufen. Ich möchte
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es tausendmal sagen: ›Ich bin, ich bin, ich bin.‹ Es ist Alles
und es ist mehr als genug.«
Noch einmal konnten wir hier das Überwechseln aus der dunklen Unterwelt der Triebe zur Schönheit unserer Erde, der Sonne, des Seins beobachten. Doch unterschieden sich diese
Episoden von den vorangegangenen insofern, als sie diesmal
aktiver partizipiert, sie trommelt, sie geht auf in der Schar der
tanzenden Neger, sie schlägt mit den Händen den Boden und
schließlich möchte sie tanzen (glaubt sich nicht nur dazu angewiesen). Dann wallt tödlicher Zorn in ihr auf, worauf die Sequenz abreißt. Darüberhinaus zeigt sich ein weiteres Element, das einen Schlüssel zum Verständnis ihrer Verkrampftheit, zumal ihres inneren Widerstands gegen das Tanzen liefert: die Freundin Maria, die sie wegen ihres Unvermögens auslacht. Es
ist ihr Stolz, der sie daran hindert, sich der Spontaneität der
Bewegung bedingungslos hinzugeben. Die Bewegung muß, wie
sie meint, nach etablierten Regeln ausgeführt werden, für improvisierte Bewegungsabläufe und Intuition bleibt
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