Die Reise zum Ich
und indem sie diesen Phantomen Stimme verleiht, kommen die verkapselten Energien, ihre Triebe, zu Worte - und damit sie selbst.
Angesichts unseres übergreifenden Anliegens, die psychodynamischen Abläufe zu erkennen, zu erfassen und zu interpretieren - ein Vermächtnis der Psychoanalyse - können wir, wie ich meine, den soeben beobachteten Prozeß der Triebfreisetzung
nicht hoch genug bewerten. Und ebenso meine ich, daß die
Anwendung von Ibogain dieses Nachgeben erleichtert, was
wiederum einen Lernprozeß nach sich zieht und somit der
Spontaneität für alle Zeiten eine breite Bahn öffnet. Man kann
dies als korrektive Erfahrung auffassen insofern, als sie dem
Patienten die Möglichkeit gibt zu entdecken, daß das, dem
nachzugeben er sich fürchtete, in Wirklichkeit weder zu fürchten noch unakzeptabel ist.
Eines der klar umrissensten Resultate meiner Praxis mit Ibogain erreichte ich durch die Behandlung eines Mannes, der eine homosexuelle Vergangenheit hatte, sich dann verheiratete, zu
seiner Frau aber keine rechte Beziehung fand und auch körperlich nicht an ihr interessiert war. Obwohl er in der Sitzung
»Kastrationsängste« zeigte, blieben sie weitgehend unanaly-
siert, ebenso seine hypothetische Furcht vor Frauen. Statt dessen geschah etwas anderes: Als er an einem bestimmten Punkt während der Sitzung sexuelle Erregung verspürte, ging er ins
Badezimmer, weil er glaubte, masturbieren zu müssen. Doch
als er dies versuchte, wurde ihm klar, daß dies lediglich ein
Ersatz für Verkehr sein würde; was er brauchte, war eine Frau.
Dann stellte er sich vor, daß er seine Frau in den Armen hielte.
Er begann sich wie beim Geschlechtsverkehr zu bewegen -
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zunächst ungelenk, wie in Wirklichkeit, dann zunehmend geschmeidiger. Jetzt spürte er, daß sein Körper ausdrücklich zu diesem Zweck geschaffen war, und seine Bewegungen wurden
rhythmisch und musikalisch. Dicht vor dem Orgasmus ging ihm
auf, wie vollkommen der menschliche Leib geschaffen ist; er
wurde deutlich der Anatomie von Mann und Frau gewahr und
empfand, daß die Frau nicht lediglich ein Gefäß für den männlichen Samen sei, sondern sein ganzes Sein aufnehmen konnte.
Mit seinem Samen floß und floß sein ganzes Sein in den Körper
des Weibes, der ihn in dem Augenblick aufnahm, in dem er den
gefürchteten, dennoch lustvollen Prozeß der Desintegration
durchmachte.
Was sich hier abspielte, war kein physischer Orgasmus. Er
selbst nannte es einen »psychologischen Orgasmus«, es war
nicht
einmal zur
Erektion
gekommen. Nichtsdestoweniger
empfand er hinterher vollkommene Befriedigung.
Ich habe den Vorgang hier in jedem Detail so wiedergegeben,
wie der Patient ihn selbst schilderte, weil nur diese Einzelheiten
die Qualität der Erfahrung vermitteln können. Die ganze Episode dauerte nicht länger als fünf Minuten im Rahmen einer sechsstündigen Sitzung, in deren Verlauf viele Fragen zur Sprache kamen. Bedeutsam ist aber, daß er sich erstmals beim Geschlechtsverkehr mit seiner Frau freien Lauf gelassen hatte,
wenn auch nur in seiner Vorstellung. Und wie sich erwies, war
es auch nicht das letzte Mal; es war der Anfang einer sehr nahen
sexuellen und emotionalen Beziehung.
Die Erfahrung des Patienten beinhaltete weit mehr, als die
schlichte Geschichte von sexueller Erregung und anschließende
Erlösung von Spannung zunächst erkennen läßt. Wie er sie
beschrieb, hatte sie eher den Charakter des Archetypischen; sie
enthüllte ihm das archaische Sexualmuster unserer menschlichen Spezies, was ihm zur Verinnerlichung der Geschlechtsbeziehung verhalf. Indem er - wie die Patientin unseres vorigen Beispiels - den Geschlechtsakt gewissermaßen ausagierte, verlieh er seinen Eingebungen Realität und beseitigte damit jene Ängste, die sein Verhalten sein Leben lang konditioniert hatten. Bei ihm scheint die Drogenerfahrung den Anstoß zu weiterer Erforschung und Entfaltung gegeben und weniger als Auslöser drastischer Veränderungen gedient zu haben. Der Patient, der weit gereist war, um mich zu konsultieren, kehrte nun in seine Heimat zurück und schrieb mir sechs Monate später:
»Ich fühle mich meiner Frau nun sehr nah. Selbst die Tatsa-
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che, daß ich ihr offen sagte, ich hätte sie früher nicht geliebt,
scheint uns beide einander noch näher gebracht zu haben.
Dinge, die mich früher erbitterten, machen mir jetzt nicht
mehr viel aus, und ich begehre sie öfter als vorher. Unsere
sexuellen Beziehungen sind
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