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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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jeweiligen Patienten auf, sich ihnen zu stellen oder sie darzustellen, bis ihre psychologische Realität sich im derzeitigen Denken der Person ermitteln läßt.
    Betrachten wir einmal folgenden Ausschnitt aus einer Sitzung:

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    Die Patientin (eine junge Schauspielerin, die mich wegen Eheschwierigkeiten konsultierte) erzählte mir einen Traum, in dem sie zu ihrer Überraschung einen kleinen Kobold zur Welt
    brachte - einen kräftigen gesunden Miniaturmann. Ich bat sie,
    mit mir zu sprechen, als sei sie selbst dieser kleine Mann. »Er«
    sagte: »Nennen Sie mich Shawn. Ich bin sehr intelligent. Ich
    werde singen und ich werde auch tanzen. Ich werd’s Ihnen
    zeigen, ich werd’s Ihnen zeigen.« Nachdem sie bei diesen Worten die Stimme des Kobolds imitiert hatte und sich sein Aussehen vor Augen hielt, ging ihr auf, daß sie stets darauf bedacht gewesen war, aller Welt zu zeigen, wie intelligent und geschickt
    sie sei. Dann fiel ihr auf, daß der Kobold die gleiche Figur wie
    ihr Mann und gleichzeitig die ihres Jugendfreundes besaß, und
    sie erkannte, daß sie gern deren Leben gelebt hätte, anstelle des
    eigenen. »Anscheinend wollte ich immer ein Junge sein«, sagte
    sie. »Für mich selbst habe ich nie viel übrig gehabt.«
    Hier griff ich ein und stellte ihr die Frage, ob sie sich nicht, da
    der Kobold den Begriff des Fremdartigen, Ungewöhnlichen
    vermittle, ihren Eltern gegenüber in ähnlicher Weise fremd
    gefühlt habe. Die leuchtete ihr ein. Für ihre Mutter war sie ein
    kleines Scheusal gewesen, und so hatte sie sich immer als abartig empfunden. Teilweise war dieses Gefühl auf die Tatsache zurückzuführen, daß ihre Eltern kaum jemals zärtlich zu ihr
    gewesen waren, als ob sie sich davor gescheut oder nicht gewußt
    hätten, wie sie es anfangen sollten. Also schlug ich ihr vor, sich
    in ihren Zustand als kleines Baby hineinzuversetzen und sich zu
    vergegenwärtigen, was sie damals empfunden haben könnte.
    Ihre Erinnerung war recht realistisch:
    »Ich ging zurück, immer weiter, bis ich etwa ein Jahr alt war
    und in meinem Kinderbettchen stand. Es hatte ein Gitter
    ringsum, und ich kann mich meiner Eltern erinnern und
    erlebe alles, als wäre es heute, alle Empfindungen und Bewegungen, Farben, das Tageslicht, einfach alles. Meine Eltern winkten mir zu und sagten immer ›Deli Deli‹ zu mir. Sie
    rührten mich nicht an, obwohl ich mich danach sehnte. Sie
    betrachteten mich als eine Art Wundertier. Und nun erkenne
    ich, daß der Kobold in Wirklichkeit damals geboren wurde -
    ich war eine Art Ausstellungsstück und kein menschliches
    Wesen. Es scheint, daß es mir damals an Liebe fehlte. Ich war
    auch in jenem Kinderbett drin, es wirkte auf mich wie ein
    Käfig.«
    Man beachte das Motiv »Gefangenschaft«, verbunden mit dem
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    Gefühl der Frustration. Sie litt während sie sich in diesen Erinnerungen erging. Beständig habe sie sich krank gefühlt, anders als andere Leute; sie werde nicht geliebt. Das intensivste Gefühl von Liebesentzug empfand sie beim Gedanken an ihre Mutter. Sie erinnerte sich, wie sie ins Zimmer kam, sie anschrie
    und mit den Füßen stampfte. Während das Baby weinte und
    nach seiner Mutter verlangte, sagte diese nur: »Laß mich in
    Ruhe. Hör auf zu schreien. Ich muß jetzt den Abwasch machen!« Ich forderte sie auf, als ihre Mutter zu sprechen. Daraufhin ahmte sie deren Stimme und Tonfall nach. Hier folgt eine Passage aus der Niederschrift ihrer Erinnerungen an den weiteren Ablauf der Sitzung:
    »Der Arzt sagte, ich solle meiner Mutter antworten und ihr
    sagen, was sie mir antat, und wie mir zumute war. Ich schrie
    sie genauso an, wie sie mich angeschrien hatte. Er machte
    mich darauf aufmerksam und sagte, ich solle versuchen, ihr
    von mir aus zu antworten und meine eigenen Gefühle zu
    beobachten, mich um eigenen Ausdruck bemühen. Ich begann zu weinen und suchte nach meiner Stimme, doch sie versagte mir. Ich konnte mich auch selbst nicht finden. Er
    sagte, ich solle mir vorstellen, meine Mutter nähme mich auf
    und liebkose mich. Sie nahm mich hoch, doch haßte ich sie in
    diesem Augenblick, weil sie es nicht schon eher getan hatte.
    Ich wollte ihr etwas antun, um ihr zu zeigen, wie mir zumute
    war. Der Arzt schlug mir vor, sie zu schlagen. Ich begann auf
    ein Kissen einzuhämmern, aber nicht stark genug, denn ich
    liebte sie ja zugleich. Ich empfand Schuldgefühle, weil sie mir
    nicht erlaubte, ihr meine Liebe zu zeigen. Mir wurde klar,
    daß sie mich niemals gelehrt

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