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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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    An diesem Punkt angelangt, begannen andersgeartete Empfindungen seinen Enthusiasmus zu dämpfen. Wie suchend blickte er umher und sagte: »Diese Begegnung mit mir selbst ist
    schmerzlich!« Immer wieder forderte ich ihn auf, weiter zu
    sprechen und sich über seine derzeitigen Gefühle zu äußern,
    doch lehnte er dies mehr und mehr ab.
    »Dies ist es nicht, nicht dieser Augenblick, sondern etwas in
    meiner Vergangenheit. Es ist mir etwas zugestoßen, und ich
    weiß nicht mehr was.«
    In diesem Stadium mußte ich den Raum für kurze Zeit verlas45

    sen, und so wies ich ihn an, unterdessen aufzuschreiben, was
    ihm durch den Sinn ging, um seine Gedanken besser ordnen zu
    können. Das tat er in einer weit ausholenden Handschrift, etwa
    zehn Zeilen auf jedem Blatt, darunter viele Worte in Großbuchstaben, zum Beispiel ICH, BIN und wieder ICH. Auf dem neunten Blatt bemerkte er einen Fehler, der ihm wiederholt
    unterlaufen war: statt »n« hatte er »m« geschrieben. Damit
    plagte er sich gerade, als ich zurückkehrte. Nun schrieb er in
    meiner Anwesenheit weiter, während wir miteinander sprachen. Auf der fünfzehnten Seite hieß es:
    »Das große Problem des ›n‹, was ist richtig ›m‹ oder ›n‹? Ich
    habe Angst. Ich finde das N in EINS. Eins, eins. (Ich hatte
    NE geschrieben.) Angst. Angst wegen meiner Sünden. Sünder. Angst, Angst. Ich flehe zu GOTT. WANN HABE ICH
    GESÜNDIGT? Das N. Ich bekomme Angst.
    Das Brot mit den Würmern drin, das ich als Kind essen
    mußte, ich sehe es noch. Es hat Löcher, und in ihnen sind
    Würmer [gusanos],
    Gusano
    UN
    UNA
    NANA«
    Nach »n« hatte er den Ekel vor den eingebildeten Würmern
    assoziiert, was ihn auf Nana, seine Kinderfrau brachte. Nun
    steigen die alten Gefühle für diese Kinderfrau in ihm auf. Er
    notiert: »Zuneigung mit etwas Begehren. Ich zittere.«
    Er fühlt sich gedrängt, sich etwas klarzumachen, was er im
    Zusammenhang mit seiner Nana als sehr wichtig empfindet,
    und während des Schreibens geht ihm plötzlich auf, daß das
    »N« statt »m«, »Nana« statt »Mama« bedeutete. Jetzt schreibt
    er mehrmals: »Nana und nicht Mama. Nana und nicht Mama.«
    Dann fällt ihm noch mehr ein: wie seine Nana ihn spazieren
    führte, wie er in ihrem Bett schlief und sie ihn liebkoste, wie
    bedingungslos ihre Liebe gewesen war und wie wohl er sich in
    ihrer Nähe gefühlt hatte. Er erinnert sich, wie sie aussah, an ihr
    schwarzes Haar, ihr freimütiges Gelächter. Und während die
    Erinnerungen aufsteigen, wird er immer melancholischer: er
    hat sie verloren, er hat keine Nana mehr. »Nana ist fort«,
    schreibt er.
    »Allein, allein, allein. Angst. Mutter war nur ein Teil, nicht
    das Ganze. Nana ist fort. Besuchte mich später. Herzte mich.
    Tiefer Schmerz. Schmerz. Ich bin mehr ich selbst. Ich bin ich
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    selbst. Ich selbst mit meiner Nana. Wie traurig, daß sie fort
    ist. Denn sie liebte mich, mehr als ihren eigenen Sohn. Armer
    Junge, er verlor seine Mutter. Sie liebte mich so sehr. Sie
    ging, und ich blieb allein zurück bei den anderen. Mutter.
    Suche nach Liebe.«
    Er sah, daß sein ganzes Leben ein Betteln um Liebe, oder
    vielmehr ein Verlangen nach Liebe war, die er jedem, der zu
    sehen und zu hören verstand, zu geben bereit gewesen wäre.
    Hier lag der Grund für seine Richtungslosigkeit und mangelnde
    Standfestigkeit. Er hatte etwas Kostbares verloren und sehnte
    sich so danach. Seine Gedanken wanderten nun in die Zeit, als
    er sich mit seinen Eltern »allein« gelassen fand. Das Überwechseln von der Nana zur Mama bedeutete zugleich Umzug von der Küche ins Eßzimmer. Dort fühlte er sich eingeengt, unbehaglich, ungeliebt. Vertrautheit und Wärme waren aus seinem Leben verschwunden. Er wurde nicht mehr bedingungslos akzeptiert, er mußte sich anpassen und den Anforderungen in bezug auf Manieren genügen. Doch gab es zu dieser Zeit immer
    noch etwas in seinem Gefühlsleben - Empfindungen, die unter
    Drogenwirkung wieder emporstiegen -, das er nicht richtig zu
    erfassen oder sich zu vergegenwärtigen vermochte. Da war
    noch etwas anderes als Schmerz, mehr als Sehnsucht nach Nana
    und Einsamkeit. Er spürte Angst, und in dieser Angst lag etwas
    für ihn Unbegreifliches. »Was empfanden Sie Ihren Eltern
    gegenüber?« drang ich weiter in ihn. Darauf antwortete er mit
    einer Frage: »Warum ließen sie meine Nana gehen? Warum hat
    mich meine Nana verlassen? Warum?« Er vermutete, man
    habe sie rausgeworfen.
    Mutter war eifersüchtig, vielleicht weil er

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