Die Reise zum Ich
Nana mehr liebte,
oder vielleicht hatte der Vater mit ihr ein Verhältnis. »Und was
empfinden Sie heute bei dem Gedanken an diese Entlassung?
Nahmen Sie es hin, ohne zu protestieren? Und wenn ja, hatten
Sie Schuldgefühle?« Und nun wurde es ihm klar, er empfand
Schuldgefühle. Schuld, weil er nicht für seine Nana eingetreten
war, sie nicht verteidigt hatte. Dies schien ihm nun der springende Punkt. Er hatte fortgewollt. Und auch später hatte er fortgewollt, doch seine Eltern erlaubten es nicht. »Es war entsetzlich ... ein Gefühl elender Schwäche!« Doch erinnert er sich auch, daß er nur vorgab, schwach zu sein, den braven
Jungen nur spielte. Denn hätte er es nicht getan, wäre etwas
Abscheuliches, Bedrohliches, sehr Unangenehmes passiert.
»Sie kamen mir mit all diesem dummen Zeug von Schuld und
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Hölle. Ich hatte eine sehr reale Vorstellung von der Welt,
klar und einfach, das weiß ich . . . Und dann kam die Schar
der Dämonen und Teufel und eine andere Welt, die der
körperlichen Züchtigung . . . Dinge, die in meine Welt nicht
paßten, mir auferlegt wurden. Wer war das gewesen?«
Seine Großmutter mütterlicherseits? Er ist nicht ganz sicher.
Weiter reminisziert er über Drohungen, Strafen, Sünde, Hölle
und verzehrendes Feuer.
»Es fiel mir sehr schwer, daran zu glauben. Feuer war Feuer
in meinen Augen, und wenn Leute in die Hölle kamen,
hatten sie keine Schuld. Und der Mensch besaß dann keinen
Leib mehr und darum auch nichts, an dem er Leiden zu
verspüren vermochte. Es war eine Lüge, ein Trick. Und
wozu? Damit ich mich benehmen sollte. Ein Trick. Also
wollte ich lieber ein Bösewicht sein, als etwas so Dummes zu
glauben!«
Während er vom Höllenfeuer spricht, taucht plötzlich das Bild
der glühenden Kohlen vor seinem inneren Auge auf, in die ihm
versehentlich
die
Halskette
seiner
Mutter
gefallen
war.
Schmerz preßt ihm das Herz zusammen: Es war gar nicht die
Kette seiner Mutter, wie er geglaubt hatte, sondern die seiner
Nana. Sie hatte ihr gehört, die nichts besaß, und die man so
schlecht behandelte.
»Wer hatte nur von der Hölle erzählt? Vielleicht eines der
Mädchen? Nein, jemand, der autoritär zu mir sprach: meine
Mutter! Ja, es war meine Mutter. Sie belog mich. Wie
schrecklich! Wie töricht! Und sie war der Anlaß, daß ich mit
diesen Schuldgefühlen leben mußte. Und mit diesem Bestreben, zu sein, was ich nicht war, und mit dieser Furcht, der zu sein, der ich war. Welche Beschränktheit und Dummheit!
Mich hartnäckig nach ihrem Geschmack modeln zu wollen.
Sie hatte kein Kind, sie wollte es schaffen , nach ihrer Vorstellung! Sie zwang mir dieses dumme Zeug von Sünde und Hölle auf. Wer so etwas Dummes erzählte, konnte weder gut
noch schön sein. Es ging ihr nur um das Standesgemäße, um
ihre persönliche Reinheit, damit sie die Dame spielen
konnte. Und auch mein Vater warein Schuft. Beide beuteten
sie eine imaginäre Vorstellung aus. Es ist hart, die Eltern
schrumpfen zu sehen. Wie klein erscheinen sie mir jetzt. Sie
hatten sich gegen mich verschworen. Nicht gegen mich, sondern gegen Nana, gegen das Leben. Jetzt fällt es mir wieder ein, sie hielten mich für unintelligent. Ich aber hatte einen
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scharfen Blick, ich war doch intelligent, ich konnte sie an der
Nase herumführen. Ja, indem ich mich genau ihrer Argumente bediente, jener gleichen Argumente, die mich so niederdrückten. Sie unterwarfen mein Leben, das Leben ihres Sohnes, einem Haufen Gefasel!«
Diese Darstellung weicht weit von der autobiographischen
Schilderung seiner Eltern und seiner Gefühle für sie ab. Sogar
das Eßzimmer hatte er als schön bezeichnet. Doch seine Intuition hatte ihn nicht betrogen: Etwas war im frühen Kindheitsstadium schiefgelaufen. Mit seinen Gefühlen war eine grundlegende Veränderung vorsichgegangen; sie wurden verschüttet unter einer Reihe von Pseudo-Gefühlen, die nur seine Eltern
akzeptieren konnten. Kein Wunder, daß er sich limitiert und
unerfüllt fühlte.
Gespräch und Behandlung hatten am Mittag begonnen, und um
drei Uhr morgens ging der Patient zu Bett. Am nächsten Tag
gingen ihm alle diese Dinge weiter durch den Kopf, und gegen
Mittag des folgenden Tages sprach er, unter Tränen, seine
Meinung zu den gestrigen Vorgängen auf Band:
»Ich muß immer noch darüber nachdenken: Warum glaube
ich, meine Kinderfrau hätte so viel gelitten? Oder war in
Wirklichkeit ich es, der so litt? Sie war vielen Dingen
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