Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
Vom Netzwerk:
gegen
    über so gleichgültig, daß sie vielleicht gar nicht unglücklich
    war. als man ihr sagte, sie müsse gehen. Leid tat ihr nur der
    kleine Junge, der nun allein blieb. Das war ihr einziger Kummer. Und für mich war es ein Unglück, vollkommen unvorbereitet allein gelassen zu werden. Ich litt in der Tat an diesem Schlag. Ich litt, weil meine Nana ging, ich litt, weil
    man sie hinauswarf, ich litt, weil ich allein blieb. Ich litt, weil
    sie unanständig behandelt wurde und ich litt an meiner Ohnmacht. Ich war nicht in der Lage, etwas zu tun. Ich verlor einen Teil meiner selbst. Wie unüberlegt von meinen Eltern.
    Fehlende Neigung, eine Fehlhandlung, Selbstsucht. Sie hatten mich überhaupt nicht lieb. Reines Theater, reines Theater. Vielleicht sahen sie mit der Zeit ein, wie befriedigend es ist, einen Sohn zu lieben, und liebten ihn dann auch, aber ich
    glaube, zu Anfang liebten sie mich nicht. Ich wurde verhätschelt, das ist wahr, doch das Gefühl, geliebt zu werden, hatte ich nur bei meiner Nana.
    Ich kam mir nun vor wie jemand, der sich eine Maske aufsetzte, um in dieser neuen Umgebung akzeptiert zu werden.
    Es war mein Zuhause, das wohl, doch ein anderes, seit meine
    49

    Nana nicht mehr hier lebte. Und dann begriff ich, daß ich
    viele Dinge bekommen konnte, wenn ich so tat, als sei ich gut
    und schwach. Das war meine Maske. Ich glaube, bis gestern
    habe ich immer diese Maske getragen. Immer wollte ich
    anders scheinen, als ich in Wirklichkeit bin. Und stets habe
    ich mich gefragt, wie ich bin, habe an meinen Eigenschaften
    gezweifelt. Und nun sehe ich, daß ich diese Maske immer
    getragen habe und verstand, sie Menschen und Umständen
    anzupassen. Das habe ich schon sehr früh gelernt, ein braver
    Junge zu sein, denn sonst . . . Ah! Nun fällt es mir wieder
    ein: einmal sagten sie, ich hätte die Milch einer huasa (unwissende Bäuerin) gesogen, deshalb sei ich so unmanierlich. Ich fühle mich geehrt, die Milch meiner Nana getrunken zu
    haben. Es ist doch Milch, Milch, Milch, aus richtigen brüsti-
    gen Brüsten. Von einem wirklich weiblichen Weib. Mit solchen Äußerungen wollten sie mich demütigen. Sie hielten ihren Jungen für ordinär, seine Neigungen für bäurisch, und
    deshalb nörgelten sie immer an mir herum, damit man es
    nicht merke. Allmählich gab ich wohl nach. Ein Kind ist
    flexibel, sehr flexibel, ich merkte gar nicht, daß ich nachgab.
    Jetzt verstehe ich, warum sie sich so viel Mühe machten, mich
    auf all diese Schulen zu schicken. Diese waren wohl gut, doch
    lediglich als Mittel zum sozialen Aufstieg gedacht. Sie wollten, daß ich mich schuldig fühlte, weil ich Bauernblut in mir hätte. Meine Nana so herabzusetzen! Das Blut der Besten
    von allen!
    Langsam brachten sie es fertig, daß ich Nana verriet. Und
    dies ist mein größter Kummer: ich habe meine besten Gefühle verraten, ich suchte sie nicht mehr auf, ich erzählte ihr nicht, wie sehr ich sie liebte, ich hörte auf, sie zu lieben -
    obwohl ich sie tief drinnen immer geliebt und ihr gegenüber
    Dankbarkeit empfunden habe. Nur sie habe ich in meinem
    Leben geliebt. Etwas auch meine Mutter, später, aber es war
    nicht dasselbe. Und das, was so ausdrücklich mein war, habe
    ich vergessen und verdrängt. Das ist die Wurzel meines Kummers: daß ich mir selbst untreu wurde. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich werde sein, der ich bin, wer das auch immer sein
    mag!«
    Ich halte dieses Dokument insofern für bemerkenswert, als es
    zusammenhängend ein paar Stunden beschreibt, die eine radikale Veränderung des seelischen Zustands eines Menschen herbeiführten. Es wird hier ein Prozeß deutlich und ein psycho50

    therapeutisches Ziel, das zu erreichen normalerweise sehr viel
    Zeit erfordert. Drogen können diesen Prozeß zwar beschleunigen. doch selbst mit Unterstützung von Drogen ist eine »Ein-Tages-Kur« dieses Ausmaßes die Ausnahme.
    Viele waren überrascht über die Veränderung, die in Ausdruck
    und Auftreten des Patienten vorsichgegangen war. Er trug
    keine Brille mehr, es sei denn zum Lesen, er kleidete sich
    weniger formell. Er hatte sich etwas von dem unter MDA-
    Einwirkung
    gesteigerten
    lustvollen
    Körperbewußtsein
    bewahrt, und nicht nur seine Sehkraft schien sich verbessert zu
    haben, sondern auch sein Gehör. Er fühlte sich sicherer im
    Denken, da er nun Gewißheit über bestimmte Dinge besaß, was
    sich auch arbeitsmäßig und beruflich bemerkbar machte. Er
    fühlte sich von einer zuvor ungekannten Energie erfüllt,

Weitere Kostenlose Bücher