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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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getreten, doch sicher geschah das innerhalb eines weniger abgeschirmten Seelenbereichs und ließ sich ungefährdeter befragen als Lebensführung, Charakter oder Empfindungen für andere
    Menschen. Nachdem einmal ein direkter Kontakt zur Realität
    hergestellt war und »er« seinen Körper bewußt zu spüren begann, waren die Tore geöffnet, so daß ihm ein Strom von Assoziationen zufloß, der ihm potentiell jegliche Erfahrung auf
    der gleichen Realitätsebene ermöglicht hätte.
    Es mag nützlich sein, sich das gesunde Individuum als ein
    System vorzustellen, dessen einzelne Teile alle miteinander
    kommunizieren, wobei jedes Handeln, Fühlen oder Denken
    auf der Erfahrung des gesamten Organismus basiert. Ein
    Aspekt dieses Erfahrungsbestandes ist die Erinnerung, - entweder die aufgedeckte, bewußt gemachte oder jene implizite Erfahrung, die der Kliniker bei seiner Diagnose in Rechnung
    zieht, oder der Anhalter, ehe er in ein bremsendes Auto steigt.
    Anders ist es bei der Neurose. Hier basieren Empfindungen
    oder Verhalten nicht auf der totalen Erfahrung, vielmehr ist ein
    Teil von ihr »ausgeklammert«, so daß er in einem Fragment
    seiner selbst während eines bestimmten Zeitabschnitts lebt. Bei
    den meisten Erwachsenen ist eine gewisse Verengung der Persönlichkeit vor sich gegangen, so daß die psychologische Insel, auf der sie leben, nur ein Teil des Territoriums ist, in das sie
    hineingeboren wurden. Und da die Kindheit die Zeit der größten Einheit und Spontaneität ist, sind es vor allem die Kindheitserinnerungen, die aus dem derzeitigen Bewußtseinsstand ausgeschlossen werden.
    Aus der oben geschilderten Krankengeschichte wird deutlich,
    wie es dem Jungen in einem bestimmten Alter unmöglich war,
    Trauer und Zorn zu empfinden und sich gleichzeitig von seinen
    Eltern akzeptiert zu fühlen, der einzigen Stütze, die ihm noch
    blieb. Er vermochte seine Gefühle nur zu verdrängen, indem er
    auch die Gedanken verdrängte, die sie ausgelöst hatten, d. h.,
    sie vergaß. Infolgedessen bedeutete das Sicherinnern zu jener
    Zeit eine Gefahr für seine innere Sicherheit wie für das Gefühl
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    der Gewißheit, von den Erwachsenen akzeptiert zu werden.
    Doch der Mann, der zur Therapie kam, befindet sich nicht mehr
    in der gleichen Situation. Seine Schutzhaltung, das aktive Vergessen, ist nur noch ein nutzloses Relikt, eine Narbe, ein anachronistischer Kunstgriff zur Abwehr einer Gefahr, die längst nicht mehr existiert. Denn es ist jetzt ganz ungefährlich, ob er so
    oder so über seine Eltern denkt. Die Welt ist groß, und er ist
    nicht mehr auf sie angewiesen wie einst, f r e u dhat gesagt, die
    Neurose sei ein Anachronismus, und hier setzen die Möglichkeiten der Psychotherapie ein. In gewisser Weise kann man sie als Forschungsreise in gefürchtete und gemiedene Seelenregionen bezeichnen, auf der man entdeckt, daß es dort nichts Bedrohliches und zu Meidendes gibt.
    Man mag, wie in diesem Fall, Kummer und Zorn auslösen, doch
    kann die Summe der persönlichen Erfahrung in die Gesamtheit
    der gesunden Persönlichkeit integriert werden, wenn man sie
    furchtlos akzeptiert.
    Die Heilung des Patienten erfolgt durch den Übergang aus
    einer als zwanghaft, doch zweckdienlich empfundenen Seinsweise zum »wahren« Sein, ein Erleben, das sich auch in der physischen Konstitution niederschlägt. Wir sehen, daß sein
    neurotisches Pattern - die »Maske«, das idealisierte Selbst -
    eine Replik jenes Bildes war, das sich die Eltern von ihrem
    Jungen machten und ihrer diesbezüglichen Aspirationen in diesem Zusammenhang zu einer Zeit, da er sich einsam fühlte und weit mehr der Liebe bedurft hätte. Ein wichtiger Aspekt war,
    daß sie ihn für unerzogen und unintelligent hielten, während sie
    sich doch einen gut erzogenen, manierlichen Jungen wünschten. So nötigten sie ihn, alle Anwandlungen zu unterdrücken, die »gewöhnlich« hätten wirken können, und in der Wohlerzogenheit eine zwingende Forderung zu sehen, ohne die er sich wie ein unwerter Simpel vorgekommen wäre. Diese Zwangslage machte aus ihm einen betont formellen, gehemmten, doch eloquenten Intellektuellen, der nicht in der Lage war, sich über
    einfache Dinge zu freuen. Solch ein Prozeß - die Lebenswirklichkeit wird durch ein selbstgefertigtes Bild der Realität und echte Erfahrung durch einen Komplex von äußerlichen »Zwängen« ersetzt - liegt einer jeden Neurose zugrunde, mögen die Umstände, die zur Maskierung führten noch so verschieden
    und ihre Züge

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