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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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der
    Intelligenz und Männlichkeit vor, ermutigte ihn und billigte
    alles was er tat. Bei mir machte er das nie.
    Da mein Bruder nicht mit mir spielen wollte und ich keine
    Freunde hatte, verbrachte ich meine Zeit mit meinen Schwestern, vor allem mit der älteren, die ich sehr liebte und der ich sehr nahestehe. Durch diesen Umgang, glaube ich, nahm ich
    etwas Mädchenhaftes an, dessentwegen mich mein Bruder
    verhöhnte und das mir während der ersten Schuljahre Pro56

    bleme bereitete.
    Was meine Mutter betrifft, glaube ich, daß sie mich liebte,
    doch zeigte sie es nie, im Gegensatz zu meinem Vater, der
    seinen Gefühlen unmittelbareren Ausdruck gab als sie.«
    Etwa eine Stunde nach Einnahme von 100 mg MDA (eine
    geringe Dosis für diesen Patienten) meldete er ein gewisses
    Schwindelgefühl; in der nächsten Viertelstunde geschah aber
    nichts weiter. Nun aber bat ich ihn, mich anzublicken und mir zu
    sagen, was immer er sehe. Sofort sagte er, daß ihn etwas in
    meiner Art an seine Stiefmutter erinnerte. Ich forderte ihn auf,
    so zu tun, als sei ich tatsächlich seine Stiefmutter. Würde er
    unter Einwirkung der Droge seinen Empfindungen Luft machen? Welche Worte würde er der »Stiefmutter« zur Verdeutlichung ihrer Haltung in den Mund legen? »Du Suse!« habe sie immer gesagt. »Du Suse! Suse! Immer rennst du hinter deinem
    Vater her, hängst an ihm wie ein kleines Mädchen.« Nun animierte ich ihn, ihr zu antworten, wie er es als kleiner Junge getan haben würde, wenn er es gewagt hätte. »Ich hasse dich!
    Ich hasse dich!« kam es nun aus ihm heraus,
    ln den folgenden fünf oder mehr Minuten sollte er nun von
    einer Rolle zur anderen überwechseln und ein Zwiegespräch
    mit seiner Stiefmutter führen, was weitere Gefühlserlebnisse
    zutage förderte, Gefühle des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, der Sehnsucht nach seinem Vater als dem einzigen Schutz vor ihren Attacken. An diesem Punkt begann dämmerhaft eine
    Erinnerung aufzusteigen.
    »Irgendwas war mit dem Gärtner - wir hatten einen Hausgärtner - und irgend etwas passierte mit ihm, ich weiß nur nicht mehr was - es war in der Garage, das weiß ich noch - ich
    sehe mich auf seinem Schoß sitzen - das kann doch nicht
    wahr sein?«
    Dann sah er den Penis des Gärtners vor sich und daß er ihn in
    den Mund nahm und fühlte, wie sein Gesicht plötzlich naß
    wurde, und wie verblüfft er war. All das hatte etwas mit den
    kleinen Bildern aus den Zigarettenpackungen zu tun, und ihm
    fiel wieder ein, daß er sie vom Gärtner als Gegenleistung für
    sexuelle Manipulationen geschenkt bekam. Diese Bilder wollte
    er nicht für sich. . . . nein, für seine Schwester . . .ja, seiner
    Schwester tat er es zu Gefallen, die diese Bildchen sammelte
    . . . denn sie wetteiferte im Sammeln mit seinem älteren Bruder, erinnerte er sich, und sein Bruder . . . (und nun kommt das Wichtigste) . . . sein Bruder erwischte ihn! Er erinnerte
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    sich, wie der in die Garage hineinblickte, und an seine Angst,
    daß sein Bruder es seinen Eltern erzählen würde.
    Zur Rekonstruktion dieser längst vergessenen Episode waren
    fünf Stunden notwendig. Seine Einsichten und Erinnerungen
    sind im wesentlichen in dem nachfolgenden, erst am Tag darauf
    niedergeschriebenen Bericht zusammengefaßt:
    »Als ich von meinem Bruder erwischt worden war, hatte ich
    große Angst. Ich rannte zu meiner Schwester und erzählte
    ihr, daß Fernando alles entdeckt hatte und daß er. der mich
    nicht mochte, es meiner Mutter berichten würde. Meine
    Schwester hatte große Angst vor meinem Vater und fürchtete, daß er sie schlagen würde, und bettelte, daß ich nicht sagen sollte, daß sie mich angestiftet hatte, sondern bekennen möge, ich hätte es getan, weil es mir Spaß machte. ›Bitte, du bist im Hause König, dich werden sie nicht schlagen, aber
    mich.‹ Ich glaube, sie ist deshalb immer nett zu mir gewesen,
    weil sie sich damit die Liebe meines Vaters erkaufen
    wollte.
    Als Fernando mich erwischt hatte, dachte er: ›Ha ha! Der
    König des Hauses ist eine Suse! Ich bin der einzige Mann.‹
    Meine Mutter war wütend. ›Du kriegst Haue! Warum tust du
    so etwas!‹ ›Weil es mir Spaß macht.‹ ›Ah, das gefiel dir!‹ und
    sie streute mir den Mund voll Pfeffer und sagte immer wieder: ›Es macht dir Spaß, es macht dir Spaß. Ich werde es deinem Papa sagen!‹ ›Aha, das gefiel dir!‹ Und dabei verknackste sie mir den Fuß.
    Meine Schwester: ›Armes Kerlchen! Was haben sie dir meinetwegen angetan,

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