Die Reise zum Ich
Zuneigung entgegenbrachte und die auch ich sehr liebe.«
Bei dieser Sitzung kam heraus, daß seine ältere Schwester zu
gewissem Grade bei ihm an die Stelle der Mutter getreten war
und ihm so viel bedeutete, daß er sich nicht nur ihretwegen mit
dem Gärtner einließ, sondern sogar die Schuld auf sich nahm,
um sie vor Strafe zu schützen. Indes sollte sich zeigen, daß das
Verhältnis zur Schwester nur ein dürftiger Ersatz war für die
Liebe seiner Mutter, denn er empfand ihre Zuneigung nicht als
echt, sondern nur als eine angenommene Rolle, mit der sie die
Liebe ihres Vaters zu gewinnen hoffte. Angesichts dieser späteren Einstellung können wir die erste Darstellung, die gegenseitige Zuneigung zwischen beiden, zumindest zum Teil als Selbsttäuschung und als Folge eines verzweifelten Liebesbedürfnisses auffassen.
Bei der nächsten Sitzung am Tage darauf notierte er, zusätzlich
zu dem hier bereits angeführten, folgende Bemerkungen über
Mutter und Stiefmutter:
»Ich habe nicht geweint, als meine Mutter starb. Im Gegenteil, ich war froh darüber. Ich kam mit meiner Stiefmutter besser aus, bis wir wegen meines Vaters Gegner wurden.«
Hieraus ließe sich entnehmen, daß die seiner Stiefmutter gegenüber empfundene Feindseligkeit zu großem Teil die ver62
drängte Ablehnung seiner Mutter ersetzte, und da er diese
nunmehr teilweise eingestand (er sei froh über ihren Tod gewesen), verbesserten sich (retrospektiv) seine Empfindungen für seine Stiefmutter.
Eine ähnliche Übertragung ging mit dem Zorn auf seinen Vater
vor sich: Ursprünglich hatte er seiner Stiefmutter die Schuld
gegeben, sie habe die Familie auseinandergebracht, und nun
sieht er es so, daß sein Vater sich zwischen ihn und seine
Stiefmutter stellte. Daß er die für ihn nicht akzeptierbaren
Gefühle seinen Eltern gegenüber auf das Bild seiner Stiefmutter projizierte, wurde im Verlauf der MDA-Behandlung ersichtlich: Anfangs entdeckte er an mir eine Ähnlichkeit mit seiner Stiefmutter, aber im Lauf des Gesprächs wurde eine
Ähnlichkeit mit seiner Mutter daraus.
In den eine Woche nach der Einzelsitzung entstandenen autobiographischen
Aufzeichnungen
schreibt
er
folgendes
über
seine Mutter:
»Ich erinnere mich ihrer als eine Frau von außergewöhnlicher Stärke. Ich glaube, sie war sehr gut, doch mangelte es ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an Ausdrucksvermögen.
Ich entsinne mich, daß ich sie immer wieder fragte, ob sie
mich liebe; sie pflegte zu antworten: ›Laß mich zufrieden, ich
bin müde!‹ Ab und an gab sie mir einen Kuß, doch erinnere
ich mich nicht, daß sie mich jemals gestreichelt oder liebkost
hätte.«
In seiner Stiefmutter sieht er
»eine faule und schmutzige Frau; sie pflegte mich zu schlagen
und hetzte auch meinen Bruder auf, mich zu schlagen. Meine
Schwestern dagegen nahmen mich in Schutz. Wenn ich
weinte oder es meinem Vater sagte, nannte sie mich eine
Suse. Sie knauserte am Essen, und ich vermute, daß die Tb,
die ich einmal hatte, damit zusammenhing-oder zumindest
glaubte mein Vater das . . . Niemals habe ich jemanden so
gehaßt wie sie, und sie rächte sich, indem sie mich Suse,
Dummkopf und Faulpelz schimpfte . . . Andererseits tut sie
mir leid. Was muß sie gelitten haben mit solch einem Haufen
von Scheusalen, die wir waren!«
Deutlich ist zu erkennen, daß die Ansichten und Empfindungen
des Patienten fast wieder die gleichen waren, wie vor unserem
Gespräch. Jedoch nur beinahe. Seiner letzten Äußerung über
seine Stiefmutter läßt sich das stillschweigende Eingeständnis
entnehmen, daß sie lediglich Ziel seiner eigenen irrationalen
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Reaktionen war; ihre Attacken versteht er nun als Rache.
Andererseits bestehen Unterschiede zwischen dem, was er zuerst über seine Mutter sagte, und dem Vorhergehenden:
» ... es mangelte ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an
Ausdrucksvermögen. Ich entsinne mich, daß ich sie immer
wieder fragte, ob sie mich liebe; sie aber pflegte zu antworten: ›Laß mich zufrieden, ich bin müde.‹«
In dieser Äußerung liegt ein deutliches Eingeständnis seiner
Verunsicherung und Frustration, und der Gedanke, daß seine
Mutter ihn nicht liebte, wird hier schon eher akzeptiert. Schon
die Weise der Formulierung (»es mangelte ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an Ausdrucksvermögen«) ist eine Miniatur-Replika des Vorgangs, der Inhalt unseres Gesprächs als
Ganzes wird jedoch verdrängt und reduziert. Zuerst kommt
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