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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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Zuneigung entgegenbrachte und die auch ich sehr liebe.«
    Bei dieser Sitzung kam heraus, daß seine ältere Schwester zu
    gewissem Grade bei ihm an die Stelle der Mutter getreten war
    und ihm so viel bedeutete, daß er sich nicht nur ihretwegen mit
    dem Gärtner einließ, sondern sogar die Schuld auf sich nahm,
    um sie vor Strafe zu schützen. Indes sollte sich zeigen, daß das
    Verhältnis zur Schwester nur ein dürftiger Ersatz war für die
    Liebe seiner Mutter, denn er empfand ihre Zuneigung nicht als
    echt, sondern nur als eine angenommene Rolle, mit der sie die
    Liebe ihres Vaters zu gewinnen hoffte. Angesichts dieser späteren Einstellung können wir die erste Darstellung, die gegenseitige Zuneigung zwischen beiden, zumindest zum Teil als Selbsttäuschung und als Folge eines verzweifelten Liebesbedürfnisses auffassen.
    Bei der nächsten Sitzung am Tage darauf notierte er, zusätzlich
    zu dem hier bereits angeführten, folgende Bemerkungen über
    Mutter und Stiefmutter:
    »Ich habe nicht geweint, als meine Mutter starb. Im Gegenteil, ich war froh darüber. Ich kam mit meiner Stiefmutter besser aus, bis wir wegen meines Vaters Gegner wurden.«
    Hieraus ließe sich entnehmen, daß die seiner Stiefmutter gegenüber empfundene Feindseligkeit zu großem Teil die ver62

    drängte Ablehnung seiner Mutter ersetzte, und da er diese
    nunmehr teilweise eingestand (er sei froh über ihren Tod gewesen), verbesserten sich (retrospektiv) seine Empfindungen für seine Stiefmutter.
    Eine ähnliche Übertragung ging mit dem Zorn auf seinen Vater
    vor sich: Ursprünglich hatte er seiner Stiefmutter die Schuld
    gegeben, sie habe die Familie auseinandergebracht, und nun
    sieht er es so, daß sein Vater sich zwischen ihn und seine
    Stiefmutter stellte. Daß er die für ihn nicht akzeptierbaren
    Gefühle seinen Eltern gegenüber auf das Bild seiner Stiefmutter projizierte, wurde im Verlauf der MDA-Behandlung ersichtlich: Anfangs entdeckte er an mir eine Ähnlichkeit mit seiner Stiefmutter, aber im Lauf des Gesprächs wurde eine
    Ähnlichkeit mit seiner Mutter daraus.
    In den eine Woche nach der Einzelsitzung entstandenen autobiographischen
    Aufzeichnungen
    schreibt
    er
    folgendes
    über
    seine Mutter:
    »Ich erinnere mich ihrer als eine Frau von außergewöhnlicher Stärke. Ich glaube, sie war sehr gut, doch mangelte es ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an Ausdrucksvermögen.
    Ich entsinne mich, daß ich sie immer wieder fragte, ob sie
    mich liebe; sie pflegte zu antworten: ›Laß mich zufrieden, ich
    bin müde!‹ Ab und an gab sie mir einen Kuß, doch erinnere
    ich mich nicht, daß sie mich jemals gestreichelt oder liebkost
    hätte.«
    In seiner Stiefmutter sieht er
    »eine faule und schmutzige Frau; sie pflegte mich zu schlagen
    und hetzte auch meinen Bruder auf, mich zu schlagen. Meine
    Schwestern dagegen nahmen mich in Schutz. Wenn ich
    weinte oder es meinem Vater sagte, nannte sie mich eine
    Suse. Sie knauserte am Essen, und ich vermute, daß die Tb,
    die ich einmal hatte, damit zusammenhing-oder zumindest
    glaubte mein Vater das . . . Niemals habe ich jemanden so
    gehaßt wie sie, und sie rächte sich, indem sie mich Suse,
    Dummkopf und Faulpelz schimpfte . . . Andererseits tut sie
    mir leid. Was muß sie gelitten haben mit solch einem Haufen
    von Scheusalen, die wir waren!«
    Deutlich ist zu erkennen, daß die Ansichten und Empfindungen
    des Patienten fast wieder die gleichen waren, wie vor unserem
    Gespräch. Jedoch nur beinahe. Seiner letzten Äußerung über
    seine Stiefmutter läßt sich das stillschweigende Eingeständnis
    entnehmen, daß sie lediglich Ziel seiner eigenen irrationalen
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    Reaktionen war; ihre Attacken versteht er nun als Rache.
    Andererseits bestehen Unterschiede zwischen dem, was er zuerst über seine Mutter sagte, und dem Vorhergehenden:
    » ... es mangelte ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an
    Ausdrucksvermögen. Ich entsinne mich, daß ich sie immer
    wieder fragte, ob sie mich liebe; sie aber pflegte zu antworten: ›Laß mich zufrieden, ich bin müde.‹«
    In dieser Äußerung liegt ein deutliches Eingeständnis seiner
    Verunsicherung und Frustration, und der Gedanke, daß seine
    Mutter ihn nicht liebte, wird hier schon eher akzeptiert. Schon
    die Weise der Formulierung (»es mangelte ihr an Liebesfähigkeit oder zumindest an Ausdrucksvermögen«) ist eine Miniatur-Replika des Vorgangs, der Inhalt unseres Gesprächs als
    Ganzes wird jedoch verdrängt und reduziert. Zuerst kommt

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